Nachbarn
Das überraschende Unglück von J. und M.
Das Erste und Letzte...
Nachbarn
Mit erstaunlich hoher Geschwindigkeit flog ihr seine Faust entgegen, zusammen mit seiner erstaunlich intensiven Fahne. Ebenfalls intensiv war das Gefühl des Aufpralls. Sie fiel rücklings auf den Telefontisch, den sie heute erst aufgebaut hatte. Wie schade darum! Es war ein neues Modell, vom blau-gelben Schweden, und hatte nur knapp 40 Euro gekostet. Er war hell und ungefähr 70 Zentimeter hoch und hatte 3 Glasplatten als Ebenen, die nun traurigerweise in unzählige kleine und große Splitter zerbrachen und sich in J.s Rücken bohrten, als sich ihr Lebensabschnittsgefährte M. auf sie stürzte und mit seinen geballten Fäusten auf ihr Gesicht boxte. J. fielen hierbei die Gardinen auf, die aus diesem Winkel nicht mehr fröhlich hellgelb, sondern fast beige und trist wirkten. Sie musste sie waschen, oder vielleicht gleich neue kaufen.
„Verdammt, J.!“, schrie er, wie er es immer zu tun pflegte, „Du weißt, wieso ich das mache!“ , unterstellte er ihr. J. kam zwischen den beklagenswert unkoordinierten Schlägen nicht dazu, zu antworten. Der Ring an seinem Finger war aber wirklich sehr schön. Schön massiv. Er stempelte gerade schlangenförmige Wunden in ihre Wange.
„Du weißt wieso, verdammt!“ Das sagte er jedesmal. „Weil ich dich so unglaublich liebe! Ich ertrage es einfach nicht…“ Er weinte, wie jedesmal. J. war beruhigt, auch, wenn er in unregelmäßigen Abständen mit dem Knie schlaff gegen ihren Unterkörper trat. Sein Geständnis läutete meist seine beginnende Bewusstlosigkeit ein. Und mit ihr seinen weiß Gott wievielten Krankenhausaufenthalt. Und mit diesem wieder die Fragerei der Ärzte – wegen seinem Zustand, und vor allem wegen ihrem, und so weiter. Herrgott, diese Gardinen machten sie nochmal wahnsinnig! Und der Tisch erst! Würde sie ihn ersetzt bekommen? Sie musste morgen vorbeifahren, beim blau-gelben Schweden, und sich in die endlos-Schlange beim Service anstellen. Sie musste bei ihrer Ärztin anrufen und den Termin morgen absagen. Es ging um das Baby, das sie vor 4 Monaten verloren hatte. Vielleicht sollte sie direkt einen neuen Tisch kaufen, das war weniger kompliziert und nahm weniger Zeit in Anspruch. M. wurde nämlich immer ein wenig….ungehalten, wenn er morgens wach wurde und kein Essen auf dem Tisch stand.
J. wartete, dass M. beruhigte, um ihn von sich herunter wälzen zu können. Vielleicht hatte er ihr eine Rippe gebrochen. Oder zwei. Aber das war nicht schlimm, das sah ja keiner. Unter dem Hemd. Und der Jacke. M. wurde tatsächlich müde und J. kroch ächzend unter ihm hervor. Das ganze Chaos um sie herum schockierte sie nicht im Geringsten. Es waren nur die Gardinen, die verdammten Gardinen, die J., 24 Jahre, Studentin aus B., dazu brachten, in die Küche zu gehen, den Notruf für M., 29 Jahre, Arbeitsloser aus B., zu wählen und die Besteckschublade zu öffnen. Sie nahm das Messer, legte es an und schloss die Augen.
Die Nachbarn hatten von alledem nichts mitbekommen. M. und J. mussten es sehr leise angestellt haben, über Wochen, Monate, Jahre hinweg, denn von den 160 Nachbarn im großen Wohnblock sagten nach dem überraschenden Unglück alle dasselbe aus. Nämlich, dass sie J. und M. nicht kannten, und wenn, nur vom Sehen. Dass sie von den Vorgängen in der Wohnung nichts mitbekommen oder gesehen oder gehört hätten. Und allgemein hatten sie nicht gesondert darauf geachtet, man hat ja heute genug eigene Probleme, auch ohne die der anderen, mit den Kindern und der Arbeit und dem verfluchten Geld, und es helfe einem ja keiner! Ob man denn schon von der neuen Kindergeld-Reform gehört hätte. Es interessiere keinen. Die Welt sei ja so kalt und gleichgültig geworden.