Fanfic: Frag nicht nach dem Warum
Kapitel: Warum?
Hi erstmal! Ich weiß, ich hab schon länger nichts von mir hören lassen und trotzdem stelle ich das nächste Kapitel on! Dem einen oder anderen wird es hoffentlich gefallen.
Na dann, viel Spaß!!
Der Wecker riss mich aus dem Schlaf. Verwirrt sah ich mich in meinem Zimmer um. Ich war ja noch nie wirklich ein Morgenmensch gewesen, doch wenn ich mich am Abend zuvor so richtig volllaufen ließ, war ich den ganzen Tag unausstehlich. Grummelnd zog ich mir die Bettdecke über den Kopf, doch das penetrante Klingeln hörte einfach nicht auf. Leise vor mich hin schimpfend warf ich die Decke weg und machte mich auf die Suche nach der Lärmquelle. Mich umsehend runzelte ich die Stirn. Das war nicht mein Zimmer, sondern…
„Sei!“, rief ich, als ich meinen besten Freund mit dem Wecker in der Hand neben dem Bett auf dem Boden sitzend erblickte. Und wenn ich mir eine Bemerkung erlauben durfte: er sah schrecklich aus. Natürlich steht mir im Moment so eine Kritik nicht zu, da ich selbst bestimmt auch nicht besser aussah, aber trotzdem… Er sah weniger verkatert als vielmehr unendlich müde aus. Hatte er denn die letzte Nacht nicht geschlafen? Ich versuchte mich an Einzelheiten zu erinnern, doch in meinem Kopf wollten einfach keine scharfen Bilder entstehen. Langsam setzte ich mich auf und rieb mir die Augen. Danach blickte ich wieder zu Sei, der inzwischen den Wecker abgestellt hatte.
„Sei? Was ist denn los? Warum schläfst du nicht, so wie jeder andere normale Mensch nach diesem Saufgelage?“ Ui, meine Stimme krächzte wie verrückt. Hatte ich gestern etwa so laut geschrieen, dass sie so gut wie weg war? Oder hatte ich gar… gesungen?! Ich wollte gar nicht daran denken.
„Los, steh auf und zieh dich an. Du musst sofort nach Hause, Matsuo.“
Gerade wollte ich mich strecken, als ich mitten in der Bewegung erstarrte. Matsuo? Sei hatte mich noch nie so genannt! Was sollte das denn jetzt? Ein Schauer lief mir über den Rücken.
„Was? Wieso denn?“, fragte ich unsicher. War etwas passiert? Mit seiner Familie? Oder gar mit meiner? Panisch sprang ich aus dem Bett, verlor – aufgrund des Restalkohols – das Gleichgewicht und fiel vor Sei auf die Knie. „Was ist denn los? Ist was passiert?“ Meine Stimme klang leicht hysterisch. Jetzt blickte er mir zum ersten Mal heute in die Augen. Ich konnte nicht fassen, was ich sah. Es war mir nicht möglich, es anders auszudrücken – Sei wirkte gebrochen. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir nie etwas unter diesem Ausdruck vorstellen. „Er war ein gebrochener Mann“, so hieß es in vielen Romanen und Filmen. Ich fragte mich immer: wieso war er gebrochen? Woran erkannte man das? Waren es seine Gesten? Seine Haltung? Seine Wortwahl? Wie erkannte man, dass jemand gebrochen war? Nun, als ich meinen besten Freund vor Augen hatte, wusste ich es.
Seis Augen – seine wunderschönen ozeanfarbenen Augen – waren leer. Die sonst so vor Freude strahlenden Iriden blickten mich stumpf an. Sein immerwährendes Lächeln war blassen, zu einem Strich zusammengepressten Lippen gewichen. Die wunderbaren hellblonden Haare, die sonst so frech in alle Richtungen standen und Sei damit zur Weißglut trieben, hingen matt hinunter. Seine Baritonstimme, die zu allen freundlich, aber nur mit mir so liebevoll sprach, war Monotonie gewichen. Seine warmen Hände, die mir sonst immer zärtlich durch die Haare wuschelte, wirkten plötzlich kalt, wie sie da in seinem Schoß lagen. Was zur Hölle war passiert? Ich bemerkte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten, doch das war mir egal. Ich musste wissen, was hier los war und zwar auf der Stelle!
„Sei, was ist nur los? Bitte, so rede doch mit mir!“ Ich flehte ihn an, ich flehte meinen besten Freund an! Noch nie musste ich so tief sinken und ihn allen ernstes anflehen, mit mir zu sprechen! Wieso redete er bloß nicht mit mir? Ich hatte doch nichts falsches getan! Oder? Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: ich war gestern Nacht so betrunken wie noch niemals zuvor in meinem Leben, hatte ich da vielleicht etwas Schlimmes getan?
„S-Sei, hab ich gestern irgendwas falsch gemacht? Ich kann mich an nichts erinnern, aber egal was ich getan habe – ES TUT MIR LEID! Bitte sei nicht böse auf mich!“
Ich glaubte, ein kurzes Flackern in Seis Augen zu sehen, dass mich meinen alten besten Freund eben mal erkennen ließ. Doch das dauerte nur Sekunden, danach waren seine Ozeane wieder dumpf, ja, emotionslos.
„Halt die Klappe und zieh die endlich an. Du sollst nach Hause gehen! Und bevor ich es vergesse – sprich mich von heute an nie wieder an oder lass dich gar bei mir blicken, verstanden?!“ Sei schrie diese Worte fast, er war wütend und doch auch kalt. Seine Worte ließen tief in mir etwas zerbrechen, er musste es doch hören! Wenn ein Hochhaus aus reinem Glas mit zweihundert Stockwerken zerborsten wäre, es hätte nicht lauter sein können als dieses Etwas, das in mir zerbrach. Nun liefen mir unaufhaltsam die Tränen meine Wangen hinab. Meine Lippen begannen zu zittern, langsam streckte ich meine Hände nach Sei aus.
„Warum… tust du das? Sei, warum?“ Mein Schluchzen wurde lauter, meinen besten Freund nahm ich nur noch durch einen Tränenschleier wahr. Kurz bevor meine Hände Seis Schultern erreichten, fing er sie ab. Sein Griff um meine Handgelenke war stahlhart und seine Hände, wie vermutet, eisig. Sein Blick bohrte sich in meine Augen, die Ozeane waren kalt. Er tat mir weh. Ich meinte damit nicht den Schmerz in meinen Handgelenken, nein, der war mir so ziemlich egal. Dass er mich aber so ansah, mit Augen, die solch eine Kälte ausstrahlten… Das tat mir weh. Dieses Etwas, das vorhin in mir zerbrochen war, rührte sich erneut. Es war, als würde jemand auf den Scherben herumhüpfen, damit mir diese Schmerzen auch wirklich in Erinnerung blieben. Aber konnte etwas eine Erinnerung werden, das mir von nun an jeden Tag meines weiteren Lebens furchtbare Qualen bereiten würde? Denn das wusste ich mit Sicherheit – auch wenn das alles hier nur ein übler Scherz war oder Sei bald wieder normal wurde – ein Rest dieses Schmerzes würde mich von nun an mein Leben lang begleiten.
„Warum?“, flüsterte ich abermals. „Sei, warum nur?“
Plötzlich verengten sich Seis Augen zu schmalen Schlitzen. „Hör auf damit! Hör auf, verstanden? Frag nicht nach dem Warum! Verdammt noch mal hör einfach auf zu fragen, es bringt nichts! Ich werde dir sowieso nicht antworten. … Niemals.“
Was sollte das? Was machte das alles für einen Sinn? Mein Sandkastenfreund wollte mich auf einmal nicht mehr sehen. Nicht einmal mehr ansprechen durfte ich ihn. Er war kalt und abweisend zu mir und das ohne ersichtlichen Grund. Jedenfalls fiel mir keiner ein. Oder hatte er etwa doch einen? Hatte ich gestern etwas angestellt? Ich zog meine Augenbrauen zusammen – Sei nannte das immer „Yus kleine Denker-Stirn“ - , mein Gehirn lief auf Hochtouren. Gestern war überhaupt ein merkwürdiger Tag gewesen, Sei war ziemlich seltsam drauf. Erst schlug er jemanden, dann weinte er und wünschte sich das erste Mal – das ALLER erste Mal – eine Umarmung von mir zum Geburtstag. Trotz dieser sonderbaren Ereignissen war der Abend aber doch noch recht lustig geworden. Der kurze Abstecher zu Seis Onkel, der uns mit Alkohol versorgte, und danach die Sternschnuppe, die unsere Wünsche mit sich forttrug, hatten uns schnell das in der Schule Geschehene vergessen lassen. Ich konnte mich noch erinnern, dass ich meine fünfte Flasche Bier leerte und wir danach auf Wodka umstiegen – allein schon bei dem Gedanken daran wurde mir schlecht – aber ab diesem Zeitpunkt war mein Gehirn wie leergefegt. Vielleicht hatte ich in meinem betrunkenen Zustand irgendetwas blödes und gemeines zu Sei gesagt?
Gerade als ich mich – wofür auch immer – entschuldigen wollte, richtete Sei sein Wort an mich. „Du Baka hast gar nichts getan, also lass diese bescheuerte Grübelei endlich sein, Yu.“
Meine Augen wurden groß. Auch wenn das eben Gesagte nicht besonders nett war, so war Seis Stimme doch etwas sanfter geworden – oder bildete ich mir das nur ein? Aber er hatte mich auch bei meinem Spitznamen genannt! Das musste doch etwas bedeuten! Mit entschlossenem Blick bewegte ich mich auf Knien auf Sei zu. Dieser hob eine Braue, doch er versuchte nicht, mich auf Abstand zu halten. Der Wecker, der den Beginn dieses furchtbaren Tages einläutete, ruhte noch immer in Seis Hand.
Als meine Knie Seis fast berührten, verharrte ich. Minutenlang blickten wir uns schweigend in die Augen, die im Moment ganz unterschiedlich waren – Seis strahlten nach wie vor eine emotionslose Kälte aus, während meine Augen vor wilder Entschlossenheit wie Feuer lodern mussten.
„Ist das ein übler Scherz, Sei?“, versuchte ich es erneut. „Sag es mir. Wenn das einer deiner Streiche sein soll, dann glaub mir, er ist NICHT LUSTIG!“ Okay, eigentlich wollte ich ja ruhig bleiben, doch in Anbetracht der Umstände war ich wohl trotzdem laut geworden.
„Ts, vergiss es. Ich meine es todernst, Matsuo“, schnaubte er verächtlich. Nun platzte mir der Kragen. Ich stürzte mich förmlich auf Sei und packte ihn mit der linken Hand am T-Shirt.
„Wa-?!“, schrie er überrascht auf. Ich schlug ihm mit meiner zur Faust geballten Rechten ins Gesicht. Der Wecker flog ihm aus der Hand, als er versuchte, seinen – oder eigentlich unseren – Sturz mit den Händen abzufangen. Mit einem dumpfen Geräusch landete er auf dem Rücken, keine Sekunde später lag ich auf ihm drauf. Ich hatte wohl etwas zu viel Schwung geholt…
Als wir so ruhig dalagen, meine Nase berührte fast den Boden und ich spürte Seis Wange an meiner, überkam mich der Gedanke, dass jetzt die Zeit stehen bleiben sollte. Ich war bei Sei und es gab keine bösen Worte – im Moment zumindest. Das war alles, was für mich zählte. Ich merkte, wie mir langsam die Augen zufielen und sich mein Körper entspannte. Plötzlich spürte ich