Fanfic: Frag nicht nach dem Warum

schrumpelig. Komm da jetzt bitte raus.“ Stimmt, das Wasser war kalt und meine Finger sahen aus wie runzelige Tomaten, also erhob ich mich und stieg aus der Wanne. Wenigstens konnte ich mich wieder bewegen. Im Zeitlupentempo trocknete ich mich ab und zog meine beige Jogginghose und ein graues Shirt an, welche mir meine kleine Lieblingsschwester zurechtgelegt hatte. Ich verließ das Badezimmer und ging in die Küche. Dort wartete Kaya bereits am gedeckten Tisch auf mich. Ich setzte mich ihr gegenüber und starrte auf meinen mit Spaghetti gefüllten Teller. Bäh, war mir schlecht. Essen konnte ich jetzt bei Gott nichts.
Kaya schien mir meine Gedanken angesehen zu haben, denn sie sagte: „Yuri, ich weiß, dir ist jetzt wahrscheinlich nicht nach Essen zumute, aber du solltest wenigstens ein kleines bisschen zu dir nehmen. Du wirst sehen, es tut dir bestimmt gut.“
Widerstrebend nahm ich Gabel und Löffel in die Hand und versuchte mich an einem Bissen. Sekunden nachdem ich geschluckt hatte, ließ ich das Besteck fallen und rannte zur Spüle. Zum zweiten Mal heute übergab ich mich. Kaya war sofort bei mir und strich mir über den Rücken. „Schsch, kleiner großer Bruder, egal was los ist, ich bin mir sicher, wir kriegen das wieder hin.“ Und erneut fing ich zu weinen an. Die Bezeichnung „Kleiner großer Bruder“ hatte ich erst zwei Mal von Kaya gehört und das waren Momente, in denen ich völlig am Boden gewesen war. Diesmal jedoch wollte ich sterben. Oh Mann, ich war ja zu einer richtigen Drama-Queen mutiert. Ich öffnete den Wasserhahn und spülte mir den Mund aus. Dann setzte ich mich wieder an den Tisch. Kaya hatte zur Vorsicht alles Essbare entfernt und ließ sich mir gegenüber nieder. Stille breitete sich aus. Sie wollte mich nicht drängen, wofür ich auch überaus dankbar war, aber die Neugier stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Ich atmete einmal tief durch, was sich allerdings eher wie ein tiefer Seufzer anhörte, und fing an zu sprechen: „Gestern… Als ich… Die Sternschnuppe… Frau Kuro… So böse…“. „Moment mal, Yuri“, unterbrach mich Kaya. „Erzähl doch eins nach dem anderen, ja? Wohin seid du und Sei-“ „Nicht sagen! Sag nicht… seinen Namen. Bitte, sag ihn nicht, Kaya, tus nicht. Bitte, sprich ihn nicht aus, ich-“
Kühle Finger legten sich auf meine zu Fäusten geballten, zitternden Hände. „Die… Die Sternschnuppe ist schuld, dass Sei mich hasst!“, brüllte ich meiner verdutzten Schwester entgegen. „Die Sternschnuppe? Du meinst, ein Himmelskörper ist schuld daran, dass Seich-“, ich zuckte zusammen, „’tschuldige, dass er dich hasst?“ Ich nickte stumm. „Und wieso sollte Se- äh, er dich hassen?“ Das wusste ich doch auch nicht! Ich zuckte nur mit den Achseln. Stockend gab ich ihr eine kleine Zusammenfassung der heutigen Ereignisse. Als ich schließlich endete, sah Kaya mich mit traurigem, mitfühlenden Blick an. „Hat… er denn gesagt, dass er dich hasst?“
Ich starrte sie an. Hm, mal überlegen… Ich ließ meiner Denker-Stirn freien Lauf. Sei hatte gesagt, dass er mich nicht wiedersehen wollte, ich ihn ja nie wieder ansprechen sollte. Kam das nicht aufs Gleiche raus? Langsam schüttelte ich den Kopf. „Nein, aber… Ich weiß nicht, du hättest sehen müssen, wie er mich angesehen hat! Als wäre ich es nicht wert, von ihm beachtet zu werden. Und dann diese eiskalten Augen! Er war doch nie…“ Ich schluchzte. Sei war nie wie seine Eltern gewesen. Doch jetzt… Jetzt war alles anders. Es waren noch etwa eineinhalb Tage bis ich ihm zwangsläufig wieder über den Weg lief. Mein Hass auf die Schule vergrößerte sich extrem. „Was soll ich bloß tun, wenn er mich wirklich hasst?“, flüsterte ich. Es gab doch auch keine andere Möglichkeit. Wieso sonst sollte man einen langjährigen Freund plötzlich von sich stoßen?
Kaya stieß die Luft aus. „Ich weiß es nicht, Yuri. Ich weiß es wirklich nicht. Das ist doch nicht normal! Ich kann mir einfach nicht erklären, was in ihn gefahren ist. Dabei dachte ich immer, ihr würdet-“ Abrupt brach sie ab. Verwirrt sah ich meine kleine Schwester an. „Wir würden was?“ Auf einmal wirkte sie hibbelig und wich meinem Blick aus. „Äh, na ja, ich dachte schon, ihr würdet bis in alle Ewigkeit beieinander kleben, hehe.“ Wenn sie etwas nicht konnte, dann war es lügen. Darin waren wir uns wirklich ähnlich. Doch ich hatte nicht die Kraft, weiter nachzubohren. Ich wollte nur noch ins Bett, aufwachen und wieder Seis 16. Geburtstag feiern. Dieses Mal hätte ich keinen Fehler gemacht und Sei hätte somit keinen Grund gehabt, mich aus seinem Leben zu streichen. Was auch immer ich getan hatte, ich hätte es rückgängig gemacht. Aber leider konnte ich die Zeit nicht zurückdrehen. Ich konnte nicht herausfinden, was ich getan hatte. Außerdem konnte ich Sei nicht einfach so aus meinen Kopf verbannen! Verdammt, was konnte ich denn überhaupt?!
„Kaya, ich leg mich hin, ja? Wenn Mum und Dad heimkommen, sag ihnen, dass ich fertig vom vielen Feiern bin, okay? Morgen… Morgen geht’s mit bestimmt besser.“ Sie wusste genauso gut wie ich, dass es mir am nächsten Tag noch nicht besser gehen würde. Und auch nicht am übernächsten. Aber sie nickte und entließ mich – fürs erste. Ich wusste ganz genau, dass sie noch viele Fragen hatte, doch sie war so rücksichtsvoll und ließ mich erst mal meine Gedanken ordnen. Ich schlurfte in mein Zimmer, schmiss mich aufs Bett und krallte mir das Kopfkissen. Ich presste mein Gesicht hinein, heulte und schrie. Und schrie und heulte…

Montag. Ich hasste Montage. Aber diesen hasste ich ganz besonders. Es war der erste Tag, an dem ich Sei nach unserer Trennung – ich hatte beschlossen, es so zu nennen (wenn auch nur in Gedanken, auf dummes Gerede konnte ich getrost verzichten), denn „Streit“ war es ja nicht gewesen und auch sonst fiel mir das ganze Wochenende über kein passenderer Begriff ein – wiedersehen würde. Kaya hatte mich liebevoll aus dem Bett geworfen, war mir auf Schritt und Tritt gefolgt, damit ich nicht aus einem Fenster türmen konnte um mich womöglich vor diesem Aufeinandertreffen zu drücken. Als ich – später als gewöhnlich – fertig war, nahm sie mich an der Hand und legte mit mir gemeinsam unseren Schulweg zurück. Das kam eigentlich nie vor, denn Kaya war sehr beliebt an unserer Schule und sie traf sich normalerweise immer mit ihren Freundinnen, um mit ihnen zur Schule zu gehen. Und ich ging gewöhnlich gemeinsam mit… Sei. Er holte mich immer von zu Hause ab. Heute nicht. Tja, somit war wieder ein bisschen Hoffnung, dass alles nur ein böser Albtraum war, gestorben.
Nun stand ich hier. Vor dem riesigen Eingangstor, dass für uns ankommende Schüler geöffnet war. Der Weg, der zu dem Gebäude führte, war betoniert, aber links und rechts erstreckte sich eine grüne Wiese, die von Bäumen und Blumen nur so strotzte. Ein riesiger marmorner Springbrunnen mit Engelsskulpturen verziert auf je einer Seite, verlieh dem Gelände eine angenehmere Atmosphäre. Allein um diesen weitläufigen Garten mit allem Pipapo in Schuss zu halten, waren fünf Leute angestellt worden. Irgendwohin mussten die unerhört hohen Schulgebühren, die die Eltern bezahlten, ja hinfließen… Das Schulgebäude an sich war etwa so groß wie das weiße Haus – ehrlich! Kaya und ich konnten nur auf diese Schule gehen, weil unsere Eltern beide Vollzeit arbeiteten und nur selten etwas für sich selbst ausgaben. Sie liebten ihre Kinder eben wirklich und wollten ihnen die bestmögliche Ausbildung zukommen lassen.
„Hey, Brüderchen. Steh da nicht wie angewurzelt, du musst schon reingehen. Ab jetzt musst du leider allein zurechtkommen, aber ich werde jede Pause bei dir vorbeischauen, ja? Also dann, bleib tapfer!“ Kaya gab mir einen Kuss auf die Stirn und lief dann zu ihren Freundinnen, die schon auf sie warteten. Einige kreischten, als sie ihre giftgrünen Haare sahen, doch es waren wohl anerkennende Schreie, denn sie umringten meine kleine Schwester und schnatterten wild drauf los, während sie ihr durch das Haar wuschelten. Als sie den Eingang passierten, drehte Kaya sich noch mal zu mir um und hielt mir Faust samt nach oben ausgestreckten Daumen hin. Ich imitierte die Geste, wenn auch nicht so energisch wie sie. Danach verschwand sie im Inneren des Gebäudes.
Seufzend bewegte auch ich mich darauf zu, schließlich wollte ich nicht zu spät kommen. Unser Mathelehrer war da sehr pingelig, was das Pünktlichsein betraf. Ich hatte gerade ein paar Meter zurückgelegt, als plötzlich-
„Hey, Seichi! Da bist du ja! Ziemlich spät dran, was?“
Ich konnte nicht anders, wie von selbst drehte ich mich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Da stand er – und blickte mich unverwandt an! Es war nicht zu sagen, mit welcher Art von Blick er mich bedachte, dafür stand ich zu weit weg. Aber schon allein die Tatsache, dass er mich ansah, ließ wieder Hoffnung in mir aufkeimen. „Sei…“ Ein leises Flüstern entfuhr meinen Lippen und als ob er mich trotz der Distanz hören würde, bewegte sich auch sein Mund wie zu einer Antwort. Mein Puls beschleunigte sich. War das alles vielleicht doch nur meiner Fantasie entsprungen? Waren wir vielleicht noch Freunde? Meine Füße bewegten sich in seine Richtung. Takeshi, der Sei vorhin gerufen hatte, drehte sich zu mir um. „Hey, Yuri! Morgen! Du, das mit gestern tut mit echt lei-“
„Spar dir die Mühe, dich bei Matsuo zu entschuldigen. Du hattest recht. Ein paar Schrammen würden seinem Milchgesicht schon nicht schaden. Los, gehen wir, sonst kommen wir zu spät.“ Ich blieb wir angewurzelt stehen. Seichis Stimme war schneidend und eiskalt zugleich. Der Blick, mit dem er mich jetzt bedachte, war anders als der vor ein paar Minuten. Er war eisig und hochmütig. Wenn er mich vorhin so angesehen hätte, wäre es mir – so wie jetzt – eiskalt den Rücken runtergelaufen. Also war es doch kein Albtraum gewesen. Kein Vielleicht
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