Tears in Heaven
zitternde Hand ihres Kindes in ihre eigene, warme, ruhige Hand und fuhr ihr mit den Fingerspitzen über den Handrücken. Akane schloss ihre Augen.
„Wie sehr du es dir auch wünscht, ich kann dir nicht helfen.“
„Was?“, fragte die junge Frau zornig, als ihr Temperament die Oberhand in ihrem unruhigen Herzen gewann. Doch das friedliche, doch traurige Lächeln ihrer Mutter beruhigte ihr Herz wieder.
„Nicht ich kann dir helfen, mein Liebes, denn ich wünsche mir zu sehr, wieder mit dir vereint zu sein. Ein egoistischer Wunsch, ich weiß, aber ich vermisse euch so sehr“, antwortete sie ruhig und umarmte ihre jüngste Tochter liebevoll, um ihr Halt und Sicherheit zu vermitteln. „Nur er kann dir helfen, mein Schatz. Nur er, nicht ich!“
Die Niedergeschlagenheit, der Kummer, die Qual, die Akane nach den ersten Worten ihrer Mutter verspürt hatte, wich einer unvergleichlichen Leidenschaft, die ihren Körper von innen heraus entbrannte und ihr grenzenlose Kraft gab.
„Was muss ich tun?“
„Nichts“, flüsterte ihre Mutter mit tränenerstickter Stimme sanft, fuhr ein letztes Mal durch die Haare ihrer Tochter und umschlang sie in einer herzerwärmenden Umarmung, die ihre ganze Liebe für ihr Kind zeigte. „Schließe deine Augen und denke mit aller Kraft an den Mann, nach dem sich dein Herz verzehrt. Wenn er dich genauso sehr spüren, sehen und halten will wie du ihn, dann werdet ihr euch finden.“
„Mama.“
„Aber lass dir Folgendes gesagt sein“, warnte sie ihre Mutter. „Du darfst ihn nicht ansehen und ihn nicht bitten, dir die Hand zu geben, dass du ihm folgen kannst. Wenn die Zeit gekommen ist, gehe einen Schritt nach vorne, verlasse ihn. Wenn er dir folgt, dich bittet zu bleiben, gehe weiter."
Dankbar nickend schloss Akane hoffnungsvoll die Augen, ehe eine im Sonnenlicht glänzende Träne von ihren Wimpern auf ihre Lippe perlte, sodass der salzige Tropfen die junge Frau an ihr Zuhause, an ihre Halle, an ihren Verlobten, mit dem sie zusammen trainierte, erinnerte. Bevor sie sich jedoch von den süßen Gedanken an ihn hinfort tragen ließ, öffnete sie ein letztes Mal ihre vor Freude strahlenden Augen.
„Mama, ich werde dich vermissen.“
Dann schloss die junge Frau die Augen und ließ sich von ihren lieblichen Gedanken überwältigen. All ihre Erinnerungen, ob herzerwärmend oder herzzerreißend, ob schrecklich oder wunderschön, ob wohltuend oder kummervoll, handelten nur von einer einzigen Person.
„Ranma?“
Der junge Mann nahm von fern wahr, dass ihn einer seiner treuen Freunde angesprochen hatte. Schützend hielt er den leblosen Körper einer jungen Frau in seinen Armen, der nur mit seinem Hemd bedeckt war und still in seinem Schoß lag. Vollkommen ausdruckslos blickte er auf die friedlich ruhenden Gesichtszüge seiner Geliebten, die in seinen starken Armen lediglich zu schlafen schien, doch der fehlende Atem und die unnatürliche Blässe in ihrem Gesicht verrieten, dass sie den ewigen Schlaf schlief.
„Ranma?“ Eine zweite Frau legte ihre Hand mitfühlend auf seine Schulter, doch der junge Mann reagierte nicht und so zog sie diese widerstrebend wieder zurück.
Der junge Mann spürte nichts, er spürte nicht die bittere Kälte, die der peitschende Wind auf dem verlassenen Berg verursachte, er spürte nicht den brennenden Schmerz der zahlreichen Wunden, die er während des Kampfes davongetragen hatte, er spürte nicht die wahnsinnige Leere, die dieser Verlust mit sich bringen würde, die Leere, die ihm das Leben unmöglich machen würde, er spürte nichts, er fühlte nichts. Und plötzlich fielen seine klagenden Tränen auf die von Blut befleckte Erde.
Sie fielen so zahlreich auf die Erde wie Schneeflocken in einem grauen Wintersturm zu Boden sinken und er schämte sich keiner dieser Tränen. Zitternd schloss der junge Mann die Augen und rang nach Luft, denn der stechende Schmerz, der langsam einsetzte, raubte ihm den Atem. Wie glühend heiße Messer bohrte er sich in seine Eingeweide und versetzte ihm Stich um Stich. Die unerträglichen Qualen schienen kein Ende nehmen zu wollen und mit jeder vergangenen Sekunde wurde der Schmerz schlimmer. Erinnerungen an die junge Frau strömten in sein Bewusstsein und verstärkten den stechenden Schmerz, bis er an nichts anderes mehr denken konnte als an die junge Frau und den stechenden Schmerz seines Herzens. Die Augen zugekniffen, Tränen frei fallend, dachte er an nichts anderes als seine Verlobte, die tot in seinen Armen lag.
Und dann, so plötzlich wie die Qualen eingesetzt hatten, wurden sie beendet. Der junge Mann fühlte keinen Schmerz mehr, nur noch eine angenehme Wärme und Behaglichkeit wie an einem knisternden Lagerfeuer in einer lauen Sommernacht. Erschrocken und froh zugleich öffnete er seine Augen und sah nichts als blendend weißes Licht, das ihn wie eine undurchdringliche Mauer umgab.
„Du bist also auch hier“, wehte eine liebliche, weibliche Stimme zu ihm herüber.
Lächelnd senkte der junge Mann seinen Kopf und wischte sich mit seiner Hand die frei fallenden Tränen aus den Augen. Dann verspürte er einen sanften, anhaltenden Druck an seinem Rücken und wusste, dass sich die junge Frau an ihn gelehnt hatte. Eine wohlige Wärme durchströmte seinen Körper von dem Punkt aus, an dem sein Körper den seiner Verlobten berührte. Zögernd und schüchtern griff er nach ihrer Hand, voller Angst, dass sie bei der Berührung wieder verschwinden würde, doch die junge Frau verschwand nicht. Sie drückte liebevoll ihre Hand in seine und lächelte. Rücken an Rücken, Hand in Hand standen die beiden jungen Erwachsenen und genossen die Ruhe und Zweisamkeit.
„Akane!“
"Ranma!“
„Wo, wo sind wir? Und wie geht es dir?“
Doch anstatt seinen Fragen zu antworten, drückte sie seine Hand liebevoll und bedeutete ihm zu schweigen. In ihrer Stimme tanzte die Freude über das Wiedersehen, doch ihre Worte waren mit Bedacht gewählt.
„Lass, lass uns die Zeit, die wir noch miteinander erleben können, nicht mit belanglosen Fragen vergeuden, sondern sie einfach genießen.“
Doch der junge Mann achtete nicht auf ihre Gesten. Mit rasendem Herzen hielt er ihre Hand fest als hoffte er so, alle Übel von ihr fernzuhalten. Die Gesichtszüge der Frau erhellten sich mit einem bezaubernden Lächeln.
„Was meinst du damit? Wir, wir haben ewig Zeit! Wir sind doch hier zusammen!“
„Aber nicht lange, Ranma. Ich muss zurück zu meiner Mutter und du in das Reich der Lebenden“, sagte sie und fügte traurig hinzu, als sie sein Zittern vernahm: „Es tut mir Leid, Ranma.“
Die junge Frau ging einen zögerlichen, kleinen Schritt nach vorne, doch der ebenso junge Mann ließ ihre Hand nicht los. Die Angst, die ihn überfiel, lähmte ihn. Er konnte nur über die Grausamkeit des Schicksals nachdenken, das ihm seine Verlobte ein zweites Mal binnen wenigen Minuten nehmen wollte.
„Nein!“, rief er plötzlich entschlossen und griff ihre Hand fester. Die Angst abschüttelnd, fasste er sich ein Herz und drehte sich zu der jungen Frau um. In diesem weißen Licht strahlte sie mit einer überirdischen Schönheit. „Du gehörst nicht hier hin, Akane. Du gehörst zu uns, zu mir. Bitte, komm mit mir zurück. Komm mit mir.“
Vor Freude strahlend, drehte sich die junge Frau zu ihrem Mann herum. Das Lächeln ihrer roten Lippen, die Freude in ihren Augen ließen selbst den Mond und die Sterne verblassen. Ihre Schönheit erstaunte selbst den jungen Mann, der zuerst nicht reagieren konnte, als sie sich in seine Arme warf. Dann aber legte er seine starken Arme um ihre Hüften und umarmte sie liebevoll. Nur Sekunden später spürte er, wie sich ihre Hände langsam hinter seinem Nacken schlossen. Sehnsüchtig blickte er auf ihre wartenden Lippen und beugte seinen Kopf zu ihr. Dann schloss er seine Augen und hauchte ihren Namen leise.
Und erschrak, als seine Stimme, verstärkt von tausend Echos von den Bergwänden laut widerhallte. Die junge Frau lag noch immer leblos in seinen Armen und seine Tränen fielen auf ihr Gesicht. Doch plötzlich spürte er ihre Hand auf seiner Wange.
„Aka... ne...? Akane... träume ich auch nicht...?“, fragte er atemlos.
Die junge Frau lächelte ihn liebevoll an und umarmte ihn schließlich, zu schwach, um sich aufzurichten.
„Lass und diese Komödie zu Ende spielen“, Flüsterte sie ihm dabei unbemerkt von allen ins Ohr. „Und dann, wenn sich der Trubel gelegt hat, kann ich meinen Platz einnehmen – den Platz an deiner Seite.“