Fanfic: Die Schuld der Unsterblichkeit

Nachtschatten, die im Mondlicht vor meinen Füßen über den Asphalt tanzten. Genauso fühlte ich mich im Moment auch, wie ein schwindender Geist, ohne Bezug zu dieser erschreckenden Welt. Ich war ein Mensch, ich war kein Mensch, die Wahrheit spielte Verstecken mit mir- nein, das war zu einfach, es war fundamentaler, es war mehr. Es existierte keine Wahrheit. Es gab nur Fragen und keine Antworten. Glaubte ich das? Wusste ich das? Woran konnte ich glauben? Gab es da einen Unterschied? Das Atmen fiel mir plötzlich schwer, und ein roter Schleier schien durch mein Blickfeld zu schweben, der verschwand als ich blinzelte.

Ich sah wieder den Doktor vor mir, derangiert wie er ausgesehen hatte, als er mich zu sich gerufen hatte. Vielleicht hatte er gehört wie ich die Tür zu machte. So war er mir noch nie untergekommen. Seine Kleidung hatte zwar mitunter etwas zerknittert gewirkt, wenn er darin geschlafen hatte, statt sich die Zeit zu nehmen ins Bett zu gehen, aber er hatte immer Wert darauf gelegt einigermaßen ordentlich auszusehen, ganz egal für wie altmodisch man ihn halten mochte. Nie hätte ich erwartet, dass ich ihn jemals mit derart schlampig geknöpftem Hemd zu Gesicht bekommen würde. Der fremde Besucher schien mich unverändert ausdruckslos anzusehen, so wie auch ich ihn musterte, aber in seinen Augen entdeckte ich einen unterdrückten Schimmer von Interesse, der so unerwartet kam, dass er unmöglich Einbildung sein konnte. Er hatte fein geschnittene Züge und alles an ihm war trotz seines mädchenhaften Körpers so offensichtlich perfekt; von einer so penetranten Schönheit, dass man sich in seiner Durchschnittlichkeit beleidigt fühlen konnte - obwohl ich mich keineswegs für durchschnittlich hielt. Man hätte schon blind sein müssen, um diesen Jungen nicht zu durchschauen. Er hatte das Gesicht eines Engels, oder vielleicht auch das eines Gangsters, aber in seinen Augen kämpften Gott und der Teufel, ein Anflug von Wahnsinn und eine Menge Genie, Glauben und Wissen.

Als ich wieder DuCraine ansah, der uns aus den Schatten eines Wohnzimmerschrankes aufmerksam ansah, begann der Eindruck, den der Fremde auf mich gemacht hatte keineswegs zu verblassen, es war ganz im Gegenteil wie ein abrupter Spannungsanstieg im Raum, bei dem die Sicherungen einfach irgendwann durchbrechen mussten. Die Stimme des Doktors verhinderte das. Es war die Stimme eines Geschichtsreferendars, der es liebte staubige Texte herunterzuleiern.

"Jess, das ist Jonathan Carsleigh, er ist - mein Vorgesetzter."

Ich bildete mir ein, eine kleine unplanmäßige Pause aus dem Satz herauszuhören und mir kam ein absolut logischer Gedanke dazu, aber im nächsten Moment war er verscheunden und ich musste mich wieder auf das Gespräch konzentrieren. Das war vergessen. Nein, das war Vergessen. Das war das Vergessen. Eine gelöschte Zeile auf dem Bildschirm, ein Blick ohne zu sehen. Das war Verlust.

"Ich dachte ihr wärt vielleicht... interessiert daran euch kennen zu lernen."

Einen überraschenden Moment lang machte DuCraine sich nicht die Mühe den sarkastischen Unterton und sein wütendes Gesicht zu vertuschen, obwohl Carsleigh gerade in seine Richhtung sah, aber dann wirkte er wieder sehr gefasst. Es war gut möglich, dass ich mich geirrt hatte. Jeder hätte sich irren können. Irren war normal. Irren war menschlich. Ich war nicht normal. Ich fühlte mich nicht menschlich. Ich wusste, dass ich mich nicht geirrt hatte. "Wer sind Sie?" Ehrlichkeit sprach immernoch für sich, richtig? Er war nicht gezwungen mir zu antworten. Das schien er zu wissen. Carsleigh schenkte mir nicht einmal einen weiteren Blick.

"Was verschweigen sie mir, Doktor?" Obwohl seine Stimme nicht laut gewesen war, nicht einmal anklagend, sondern ganz im Gegenteil dezent und sanft und samtweich, schien der Doktor nervös zu werden. Er wandte das Gesicht ab und es verschwand teilweise im Schatten irgendeines bis an die Decke ragenden Kistenstapels.

"Nichts. Ich dachte nur, dass Ihr... Du- Sie ihn vielleicht gerne kennen lernen würden."

Sein Blick traf wieder Carsleighs, und obwohl er den Kopf ein wenig gesenkt hatte, schien davon etwas Energetisches, fast Stoffliches auszugehen. Ich hatte nicht das Gefühl mich mit den beiden Männer noch in einem Raum zu befinden - oder in einem Universum. "Er ist ein sehr faszinierender Junge, sollten Sie wissen, und sehr intelligent." Weder ich, noch der Fremde zeigten irgendeine Regung in Angesicht des Gesagten, aber als er es doch tat, war Carsleighs ruhige Stimme so offensichtlich lauernd, ohne etwas an Charme, Humor oder Freundlichkeit zu verlieren, dass sich meine Nackenhaare aufstellten. "Sie lügen mich an, Doktor."

"Wie käme ich dazu?" Diese Frage entlockte Carsleigh ein schwaches Lächeln. "Ich weiß es nicht, mein verehrter Doktor DuCraine, aber ich werde es herausfinden. Ich sage Ihnen in aller Verbundenheit: Es lohnt sich nicht, den Rat anzulügen, nie. Wir werden herausfinden, was Sie zu verbergen haben, und dann werden wir Sie dafür bestrafen. Wir sehen uns, denken Sie daran."

Damit verschwand er einfach so, und eine Geste, ohne ein weiteres Wort, von einem Wimpernschlag zum nächsten.

Und dann hatte der Doktor mir davon erzählt. Seine Ausdrucksweise war gewesen: "Du bist kein Mensch, weißt du das?", und ich konnte damals nicht mehr sagen, als 'Ja'. Ich würde auch in zehn oder zwanzig Jahren nichts anderes sagen, als 'Ja', mehr gab es nicht dazu zu sagen. Er war so selbstverständlich, so natürlich, die Karten hatten so offen auf dem Tisch gelegen - wie hätte ich jemals etwas anderes glauben können? Hatte ich jemals etwas anderes geglaubt? Ich wusste es nicht, ich konnte mich einfach nicht erinnern.

Ich war einfach gegangen, er hatte mich nicht aufgehalten, und seitdem hatte ich mich nicht mehr dort blicken lassen. Aber ich würde zurück gehen. Mir war kalt. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals irgendeine Art von Kälte - oder Hitze gespürt zu haben, aber dieses Gefühl war dennoch so vertraut, dass es mir so oder so einen Schauer über den Rücken jagte. Das war eine wahre Heimkehr, nur für mich- eine Rückkehr ins Heim des Vergessens, denn es war mein Vergessen.

Inzwischen begegnete ich kaum noch Menschen. Kein Wunder, wer würde bei den Temperaturen noch für die Tür gehen. Es war schließlich Winter, es lag Schnee.... es war kalt...Vielleicht sollte ich gleich umdrehen- und mich öglichst beeilen. Aber es war zu spät. Ich wusste, dass es zu spät war. Ich hatte schon gewusst, dass es zu spät war, als ich diese Ecke gesehen hatte, um die meine Schritte mich jetzt führten, ich hatte es gewusst, als ich heute morgen aufgestanden war und vielleicht schon viel viel früher. Aber klar geworden war es erst, als ich den Fremden gesehen hatte, und es bestätigte sich jetzt, als direkt vor mir eine Person auftauchte, wie aus dem Boden gewachsen. Ich war nicht wirklich überrascht, aber ich hatte auch keine Zeit mehr zu reagieren. Es wurde viel zu früh schwarz um mich; das sollte nicht sein, es war falsch, alles war so falsch. Und dann durchzog sich die schwarze Kälte der Nacht, mit einem einladenden roten Schimmer. Das war die Farbe von Blut und von Rosen. Das war die Farbe von Vergessen. Ich hatte es gewusst.


Ich hatte es gewusst.

An meinem neunten Weihnachten, hatte Aikari Gäste mitgebracht. Das war ungewöhnlich. Ich hatte mich gefreut, Aikari hasste Besuch in ihrem Haus. Aber diesen hasste sie noch mehr. Sehr bald sollte ach ich lernen, diese Männer zu hassen. Als sie das erste Mal kamen, war Aikari gereizt und schickte mich schnell ins Bett. Als sie das zweite Mal kamen, verbot sie mir den ganzen Abend aus meinem Zimmer zu kommen. Als sie das dritte Mal kamen, verbot sie mir alleine das Haus zu verlassen. Als sie das letzte Mal kamen wurde alles schwarz.

Und ich hatte es gewusst, ich hatte es gewusst!

Ich sehe bis heute die Lichter an dem Weihnachtsbaum, an diesem speziellen Weihnachtsabend.
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