Alte Rechnungen
Déjà-vu
Immer weiter folgt Kaiba schweigend dem Waldweg. Er hat keinen Blick für die friedliche Schönheit in seiner Umgebung. Sein einziges Interesse liegt darin, so schnell wie möglich aus dieser digitalen Welt zu verschwinden. Seine Mine ist finster. Wenn er diesen Noah in die Finger bekommt, wird er ihm klar machen warum es ein schwerer Fehler ist, sich mit ihm anzulegen. Ob Bruder oder nicht, wenn er erst mal Zugang zu einem Terminal bekommt, wird er diesem digitalen, kleinen Wicht ein für allemal den Garaus machen!
In diesem Moment hebt er den Kopf. Mitten auf dem Weg vor ihm ist plötzlich eine Tür aufgetaucht. Kaiba blickt missmutig drein. Bestimmt soll ihm diese Tür wieder einen kleinen Abstecher in die Vergangenheit bescheren. Sicher will Noah ihm wieder mit ein paar schmerzhaften Erinnerungen aus seiner Kindheit, einen Spiegel der Selbsterkenntnis vorhalten.
Kaiba schnaubt. Dem fällt aber auch wirklich nichts Neues ein. Eigentlich hat er keine große Lust auf solche kleinen Eskapaden, aber wenn er an der Tür vorbeisieht, erkennt er nur, dass der Weg noch unendlich weiter zu führen scheint. Wahrscheinlich ist diese Tür die einzige Möglichkeit aus diesem Wald zu verschwinden. Schließlich trifft er eine Entscheidung und öffnet die Tür.
Kaum ist er hindurch getreten wird er sich gewahr, dass er gerade aus einem kleinen Geräteschuppen herausgetreten ist. Vor ihm ragt eine vornehme Villa mit einem großen Garten auf. Kaibas Augen werden schmal. Dieses Haus kennt er. Es ist die selbe Villa, vor der er bereits vorhin gestanden hat. Flüchtig schaut er an sich herunter, doch er ist noch immer im Besitz seines normalen Aussehens.
Langsam geht er über den Rasen und umrundet die Hausecke. Nun hat er den Vorgarten erreicht. Plötzlich wird die Haustür aufgerissen und eine kleine Gestalt kommt herausgelaufen. Kaiba bekommt große Augen. In dem kleinen, etwa acht Jahre alten Jungen, der da durch den Vorgarten sprintet, erkennt er sich selber. Nur wenige Augenblicke fliegt die Tür erneut auf. Ein junges Mädchen steht in der Tür und läuft dem davoneilenden Jungen hinterher.
„Wo willst du denn hin, Seto?“, schreit sie ihm nach, „Komm wieder zurück!“ Der Junge bleibt kurz stehen und dreht sich um: „Ich kann nicht, ich muss nach Hause!“ Jetzt hat sie ihn eingeholt. Sie scheint beleidigt zu sein. „Das sagst du ständig!“, meckert sie, „Immer sagst du, du musst nach Hause. Meine Eltern sind nicht da! Ich muss auf meinen kleinen Bruder aufpassen!“, äfft sie ihn nach, „Wenn du keine Lust hast herzukommen, dann sag es doch einfach!“
„Tut mir leid!“, der kleine Junge macht ein betrübtes Gesicht, „Aber ich muss wirklich auf Mokuba aufpassen. Er ist sonst ganz allein zuhause.“ Das Mädchen wehrt ab: „Ja die Ausrede kenn ich.“ Ärgerlich baut sie sich vor ihm auf: „Hör zu Seto, wenn du jetzt weggehst, dann brauchst du gar nicht mehr wieder zu kommen, klar?“ Der kleine Junge ist sehr hin und hergerissen. Schließlich kneift er die Augen zusammen und sein Gesicht verzieht sich zu einer schmerzvollen Grimmasse, dann wendet er sich wieder um und läuft zum Gittertor hinaus. „Fein!“, brüllt das Mädchen ihm hinterher, „Dann geh doch! Und so was nennt sich nun Freund! Hau bloß ab! Ich hasse dich!“ Dann dreht auch sie sich um, läuft zurück ins Haus und knallt die Tür hinter sich zu.
Einen langen Augenblick steht Kaiba nur da und blickt vor sich hin. Eine Erinnerung drängt sich ihm auf. Hat er nicht genau diese Worte heute schon einmal gehört? Nein, er wehrt diesen Gedanken entschieden ab. Noah wird mit seinen kleinen Spielchen keinen Erfolg haben.
Er strafft sich und nachdem er festgestellt hat, dass hinter dem Gittertor kein Weiterkommen möglich ist, beschließt er es nun also mit der Haustür zu versuchen. Er atmet einmal durch und betritt dann das Haus.
Doch nicht die Eintrittshalle liegt hinter der Tür sondern ein nur schwach beleuchteter kleiner Raum. Fast sofort bleibt er stehen. Vor ihm sieht er zwei vertraute Personen. Dort vor dem hölzernen Wandschrank sieht er sich selbst, diesmal als Elfjährigen. Neben ihm sieht er das Mädchen. Sie ist um die gleiche Anzahl Jahre gealtert. Möglichst geräuschlos macht sie sich an der Bücherwand zu schaffen. Kaiba spürt wie er sich verkrampft und sich plötzlich ein schwerer Kloß in seiner Kehle bildet. Mit steinernem Blick verfolgt er das Geschehen.
„Pss!“, macht das Mädchen, während sie einen kleinen Hebel betätigt. Beinah lautlos öffnet sich die Bücherwand und gibt den Blick auf einen Wandtresor frei. „Dürfen wir das überhaupt?“, fragt der kleine Seto unsicher. „Natürlich nicht!“, kommt die leicht tadelnde Antwort, „Sonst bräuchten wir das doch nicht heimlich machen.“ Mit flinken Fingern betätigt das Mädchen die Codetafel an der Seite. „Ich weiß nicht so recht“, meint Seto unsicher, „Wir bekommen bestimmt Ärger deswegen. Egal was du mir zeigen willst, das ist doch das Risiko nicht wert.“
„Ach komm schon!“, entgegnet sie, während sie erfreut registriert, dass das Schloss sich geöffnet hat, „Sei doch nicht immer so ein Feigling, Seto! Wir haben es doch schon. Du wirst Augen machen, es ist wirklich cool!“ Mit diesen Worten betätigt sie den Hebel und öffnet den Tresor. Dann greift sie vorsichtig herein und nimmt behutsam einen kleinen, flachen Gegenstand heraus.
Nun doch neugierig geworden lugt der kleine Seto ihr über die Schultern. Dann streckt sie ihm ihren Schatz entgegen. Mit großen Augen betrachtet Seto was sie da in den Händen hält. „Das... das ist ja eine Duellmonsters-Karte!“, staunt er. „Nicht irgendeine Duellmonsters-Karte“, verbessert sie, „Das ist die seltenste Karte von Duellmonsters! Das ist der legendäre Weiße Drache mit eiskaltem Blick!“ Mit vor Überraschung geöffnetem Mund starrt Seto vollkommen fasziniert auf die Karte. „Der Weiße Drache mit eiskaltem Blick!“, wiederholt er leise.
Kaiba beobachtet die beiden ebenfalls. An diesem Tag habe ich diese Karte zum aller ersten Mal gesehen!, erinnert er sich. Er beißt die Zähne zusammen. Oh ja, ich erinnere mich noch sehr gut an diesen Tag.
„Diese Karte ist unglaublich selten und kostbar“, erklärt das Mädchen nun, „deshalb bewahrt mein Vater sie auch in seinem Tresor auf.“ „Darf ich sie mal in der Hand halten?“, fragt Seto hoffnungsvoll. Einen Momentlang zögert das Mädchen, doch dann gibt sie nach. „Na schön! Aber sei ganz vorsichtig! Das ist eine ganz besondere Karte. Nur ganz besondere Personen sind es wert, diese Karte zu besitzen. Diese Karte ist so mächtig, dass nur ganz außergewöhnliche Duellanten mit ihr richtig umgehen können. Jedenfalls sagt das mein Vater.“
Äußerst behutsam nimmt Seto die Karte in Empfang. Er scheint wie verzaubert von dieser Karte zu sein. Nun kommt das Mädchen etwas dichter an ihn heran: „Ich verrate dir ein Geheimnis. Mein Vater hat mir versprochen, dass er mir diese Karte schenkt sobald ich zwölf werde. Ist das nicht toll?“ Seto schaut noch immer sehnsüchtig auf den Schatz in seiner Hand: „Wenn ich doch nur auch so eine Karte besitzen könnte. So etwas habe ich mir schon immer gewünscht!“
Einen Augenblick zögert das Mädchen, dann sagt sie: „Weißt du was Seto, ich verspreche dir etwas: Wenn ich zwölf werde und mein Vater mir diese Karte schenkt, dann werde ich sie an dich weiter verschenken!“ Der kleine Seto schaut ruckartig auf: „Was, ist das dein Ernst? Das willst du wirklich für mich tun?“ Dein seltsames Funkeln schleicht sich in die Augen des Mädchens. Dann sagt sie: „Natürlich, Seto! Ich verspreche es! Schließlich sind wir doch Freunde, oder?“ Mit einem glücklichen Lächeln strahlt Seto das Mädchen an, bevor er ihr behutsam die Karte zurückgibt.
Kaiba hat genug gesehen! Ruckartig wendet er sich um und verlässt den Raum. Nun steht er auf einmal nicht länger auf dem langen Flur der Villa sondern auf einem sandigen Pausenplatz vor einem unscheinbaren, länglichen Gebäude. Kaiba kennt diesen Ort nur allzu gut. Immerhin hat er hier einen Teil seines Lebens zugebracht. Es ist das Waisenhaus in dass er und sein Bruder als Kinder eingeliefert wurden.
Allmählich aber platzt ihm der Kragen. „Hör sofort auf mit diesem Zirkus, Noah!“, ruft er ärgerlich zum Himmel, „Es reicht! Ich weiß zwar nicht was du mit der ganzen Sache bezweckst, aber es wird nicht funktionieren, hörst du? Ich lasse mich von solchen kleinen Rückblenden nicht beeindrucken. Also misch dich gefälligst nicht länger in meine Vergangenheit ein, kapiert?“
Doch es kommt keine Antwort. Kaiba wartet ein wenig, doch Noah lässt sich nicht blicken. Verstimmt will er das Gelände verlassen, doch plötzlich sieht er erneut ein bekanntes Gesicht. Wieder sieht er sein jüngeres Ich vor sich. Er steht in einiger Entfernung an einer Schaukel. Traurigkeit und Unverständnis liegen in seiner Mine. Vor ihm steht wieder das Mädchen. Sie trägt elegante Kleidung und bedenkt ihn mit einem abschätzenden Blick.
„Leider haben wir erst vor kurzem davon erfahren“, sagt sie gerade, „Das tut mir wirklich leid für dich, Seto.“ Der kleine Junge versucht sich seine Trauer nicht anmerken zu lassen und wendet den Blick ab. „Lass das bloß nicht Mokuba sehen!“, meint sie leichtfertig, „Schließlich bist du sein großer Bruder. Er schaut zu dir auf. Er verlässt sich auf dich. Was soll er den denken, wenn er dich mit verheulten Augen sieht?“ Der junge Seto schluckt mehrmals schwer. „Du hast recht. Ich muss stark sein, für Mokuba!“ Er atmet einmal tief durch.
„Ich bin sicher, du wirst schon irgendwie zurechtkommen“, meint das Mädchen. Dann blickt sie zur Seite: „Wirklich ein Jammer, dass du nun nicht mehr zu meinem Geburtstag kommen