Auseinander gelebt
One & Only.
Eine unerklärliche Trauer, welche so plötzlich erschienen war, dass sie kaum mehr zu sein schien, als eine Nebenwirkung von einem Medikament, zerfraß ihr Herz von innen. Es war, als würde lediglich ein klaffendes, schwarzes Loch in ihrer Brust sitzen, aus dem unsäglich viele Tränen flossen. Tränen, die sie nicht mit Worten erklären konnte und ein Gefühl der Leere, das sich in ihrem Bauch ausbreitete und jegliches Glücksgefühl in ihren unendlichen Tiefe verschluckte. Waren ihre rot glühenden Augen einmal von den salzigen Tränen befreit, welche brennende Spuren auf ihren feuerroten Wangen hinterließen, so füllten sich ihre Augenwinkel schon nach wenigen Sekunden wieder mit der unerwünschten Flüssigkeit.
Die Knie ans Kinn gezogen und die Arme fest darum geschlungen, saß das rosahaarige Mädchen auf ihrem Bett und starrte reglos auf das Fenster, an dem der Regen abprallte und hinablief, wie die Tränen ihre Wangen hinabkullerten. Das beruhigende Geräusch der unzähligen Finger des Regens, wie sie an das kühle Glas trommelten und ihre Stimmung als Hintergrundgeräusch unterstrichen, übertönte selbst ihre Schluchzer, welche immerzu ihrer Kehle entflohen. Bilder schossen ihr durch den Kopf. Bilder, die sie verdrängen mochte und es nicht schaffte, weil sie in ihrem Kopf zu wurzeln schienen.
Der Anblick ihres toten Vaters, wie er leblos von der Decke baumelte, den Strick um den Hals und die Farbe aus dem Gesicht verloren, hatte sich in ihr Gehirn gebrannt. Ihre Mutter hatte seinen Tod noch weniger verkraften können, als sie selbst, hatte sich in die schützenden Arme des Alkohols gestürzt, dem sie sich mittlerweile verbundener fühlte, als ihrer eigenen Tochter. Seitdem zog Sakura es vor, sich in ihrem Zimmer zu verkriechen, wohl wissend, dass niemand sie verstand - ihre Mutter schon gar nicht.
Als auch der Nieselregen aussetzte, stand Sakura auf und spürte, dass ihre Beine jegliches Gefühl verloren hatten, als sie sich zu dem Klavier begab, was verstaubt in der Ecke ihres Zimmers ruhte. Und obwohl es tatsächlich schon sehr alt war, so waren die weißen Tasten blitzblank geputzt und von strahlendem Glanz. Wie ein seelenloser Körper wanderte sie zu dem kleinen, gepolsterten Hocker, welcher schon lange nicht mehr mit ihrem Gewicht in Berührung gekommen war. Immer, wenn sie auf ihm saß und die berauschende Musik hörte, welche den sonst so leeren Raum mit einer traurigen Melodie erfüllte, kamen diese Bilder wieder.
Sobald sie sich niedergelassen hatte und ihre schlanken Finger auf die weißen Tasten legte, keimten Erinnerungen in ihr auf, die sie immerzu verdrängte und nur in Notfällen zurück an die Oberfläche brachte. Erinnerungen an bessere Zeiten, in denen selbst ihre Mutter das Lachen noch nicht ganz verlernt und mit dem Alkohol ertrunken hatte. Ihre Finger glitten über die Tasten und die ersten Töne erfüllten den Raum und trugen ihre Sorgen für einen Moment mit sich. Alles schien von ihr zu fallen und ihr Körper wie befreit von einer zentnerschweren Last, die sich wie ein nasser Pelzmantel um sie gelegt hatte.
Die letzten Töne verklangen, der Regen setzte abrupt wieder ein und Sakura hatte sich soeben auf ihr Bett fallen lassen und presste das Kissen an ihr Gesicht, als hoffe sie, den Schmerz in ihr somit betäuben zu können, doch es half nichts. Nur das Atmen fiel ihr schwerer, doch der Knoten in ihrer Brust und der Kloß in ihrem Hals, hatten das Atmen ohnehin schon zu einem Kraftakt gemacht, den sie jede Sekunde erneut meistern musste. Traurig hob sie das Kissen von sich und richtete ihren Blick auf die Wand, welche sie von ihrer – höchst wahrscheinlich betrunkenen – Mutter trennte. Sakura sah das Bild in ihrem Kopf auftauchen: Ihre Mutter lag auf der Couch, in der rechten Hand eine halbleere Wodkaflasche, tief und fest schlafend, während der Fernseher im Hintergrund rauschte. Beinahe jeden Tag fand sie ihre Mutter so vor, wenn sie von der Schule zurückkam und jedes Mal tat es ihr mehr weh, wenn sie merkte, wie sehr ihre Mutter die Lust am Leben verloren hatte. Damals, als sie noch beste Freundin und einen Freund besessen hatte, hatte sie sogar versucht, ihr zu helfen, sie zu einer Therapie zu überreden, doch jedes Wort war an der Mauer des Stolzes und der Unsicherheit abgeprallt – nichts war zu ihr hindurch gedrungen. Damals jedoch hatte sie Freunde gehabt, die ihr zuhörten und versuchten, sie und ihre Probleme zu verstehen, doch nun war sie alleine und das nur wegen einer falschen Entscheidung, welche sie mittlerweile zu den dümmsten ihres Lebens zählte. Nun fühlte sie sich wie in einem unendlich großen, dunklen Raum und das einzige Licht, das sie umgab, war die winzige Kerze, die sie in ihren Händen hielt, deren Flamme ihr winziges Fünkchen Hoffnung auf Besserung widerspiegelte.
Sakura wurde träge, der Regen beruhigte ihr aufgewühltes Gemüt und wiegte sie langsam in den Schlaf hinein, welcher traumlos bleiben sollte und sie somit nicht mit weiteren Albträumen um den Verstand gebracht wurde.
Sein Blick lag auf ihrem Gesicht, welches starr nach vorne blickte und den Lehrer mit ihren jadegrünen Augen fixierte, um Konzentration vorzutäuschen. Es war offensichtlich, dass ihre Gedanken ganz woanders waren, denn ihre Hände glitten unruhig über die Tischplatte, als fiele es ihr schwer, sie bei sich zu behalten und sie nicht nach vorne zu strecken, um jemand Unsichtbaren vom Gehen abzuhalten.
Ihr rosanes Haar fiel über ihre rechte Schulter und bildete so einen schmalen Vorhang zwischen ihr und ihm, doch konnte er ihre geschwungenen, roséfarbenen Lippen sehen, welche zu einem dünnen Strich zusammengepresst waren, um ein zittriges Beben ihrerseits zu unterdrücken. Ihr Gesicht wirkte ruhig und gleichzeitig verstört, und wieder versetzte es seinem Herzen einen Stich, dass sie es gewesen war, die ihre Beziehung abgebrochen hatte, zumal sie die einzige gewesen war, die es jemals geschafft hatte, ihn zum Lieben zu bringen. Ihm war bewusst, dass er es ihr nie gezeigt hatte und umso mehr nagten die Schuldgefühle an ihm und die Sehnsucht nach ihrem unbeschreiblich schönen Lächeln, das er die gesamte letzte Zeit vermisst hatte. Und nun war er mit ihrer ehemaligen besten Freundin zusammen, um sie dazu zu bekommen, mit ihm zu reden, damit er ihr endlich klar machen konnte, dass er sie genauso sehr brauchte, wie sie ihn. Und sie brauchte ihn, das wusste er.
Plötzlich – ehe er sich versah – ruhte ihr Blick auf seinem und für den Bruchteil einer Sekunde stahl sich ein feines, kaum bemerkbares Lächeln auf ihre Lippen, doch es verschwand so schnell, dass es nicht einmal ihre Augen erreichte. Ihre Blick wurde auf einmal traurig, als sie merkte, wie traurig er war. Noch nie zuvor hatte sie nur eine Regung in einem Gesicht mitbekommen dürfen, weshalb seine traurige Miene sie aus der Bahn warf und um der Verwirrung aus dem Weg zu gehen, heftete sie ihren Blick erneut auf den Lehrer, welcher versuchte, der Klasse die Mathematik näher zu bringen – vergebens. Die meisten fanden es interessanter, sich mit ihrem Nachbarn zu unterhalten oder etwas auf ihren Block zu kritzeln, als ihrem Lehrer Aufmerksamkeit zu schenken. Sakura jedoch sehnte sich nach dem Ende der Stunde, denn noch länger konnte sie es neben Sasuke nicht aushalten, zumal sie Ino förmlich im Genick hatte und ihren vernichtenden Blick im Rücken spürte. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter und versuchte sich für den Rest der Stunde auf das Wichtige zu konzentrieren – ihre Probleme und die Lösung, die sie finden musste.
Sakura rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her – die letzte Stunde war angebrochen.
Sie hatte Chemie, saß ganz vorne und die Reihen, welche hinter ihr waren, gingen nach hinten immer mehr nach oben, sodass auch jeder sehen konnte, was die Lehrerin zusammenmischte. Heute hatte es beinahe die ganze Stunde gezischt, gedampft und gestunken, weshalb jeder einzelne sich nach dem Schlussgong verzehrte und mehr damit beschäftigt war, die Nase zu rümpfen oder sich zu unterhalten, als aufzupassen. Für Sakura hätte es sich als klüger erwiesen, sich ganz nach hinten zu setzen, um jedem feindlichen Blick ihrer ehemaligen besten Freundin auszuweichen und den Blicken derer, die sich zu ihren Anhängerinnen zählten. Es war schon öfter vorgekommen, dass sie irgendwelche Papierkügelchen abbekam, die von ihnen oder von Jungs geschmissen worden waren, um ihr zu zeigen, dass sie die geborene Zielscheibe ihrer Gehässigkeit war. Ein weiterer Papierflieger segelte durch die Luft und landete direkt in ihrem rosanen Haar und augenblicklich brach ein leises Kichern aus und fuhr durch die Reihen. Mit zwei spitzen Fingern klaubte sie den Flieger aus ihrem Haar und beäugte ihn misstrauisch, drehte ihn immer wieder vor ihren Augen hin und her als sie ein „Öffne bitte, Sakura-chan“ las und unweigerlich mit den Augen rollen musste. Das war eindeutig Narutos Schrift, die auf dem gefalteten Papier gekrakelt und kaum zu entziffern war. Hätte sie sich gleich denken können, denn niemand – wirklich niemand - konnte Papierflieger so gut werfen, wie er, was schlicht und einfach daran lag, das er darin a) Übung hatte und es b) seine einzige Beschäftigung im Unterricht war. Ihre Finger entfalteten den Flieger und mit großer Mühe entzifferte sie die kryptischen Zeichen, die er zu Worte zusammengefasst hatte, die – in ihren Augen – kaum mehr Sinn ergaben:
Hallo Sakura-chan!, stand da in sehr krakeliker Schrift geschrieben, ich muss dir was ganz wichtiges und sehr privates sagen, also könntest du heute um 16:00 Uhr zu unserer Lieblingsstelle am Fluss kommen? - Naruto
Sakuras ungute Vorahnung, welche sie bei dem „Sakura-chan“ beschlichen hatte, wurde durch den Rest des `Briefes´ verstärkt, sodass sie ihre Unruhe kaum mehr verbergen konnte, obgleich ihre schauspielerischen Fähigkeiten in all den Jahren des Trainings herausragend