May Angels

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Das Grab war verwittert.
Kaum besucht und gepflegt, war es nur ein kleines Quadrat überwuchert von Unkraut und vergilbtem Gras in einem Garten Eden für die Ruhenden. Verlassen, fast vergessen in der hintersten Ecke des Friedhofes. Besucher sah es kaum. Nur selten kam jemand vorbei und legte ein paar Schweigeminuten ein. Fremde besahen sich manchmal dieses Elend und beteten für den Gestorbenen. Doch die Familie blieb aus.
Außer heute.
Schwarz angezogen, die Wangen von Tränen benetzt, leise einen Satz flüsternd: "Mögen die Engel dich beschützen..."

Vor langer, langer Zeit lebte ein König mit seiner Prinzessin. Er wohnte in einer großen Burg. Einer Burg voller Geheimnisse und schlummernder Abenteuer. Drachen, die es zu besiegen gab, um seine Prinzessin aus einem hohen Turm zu befreien und Feste, die es zu feiern gab, um das Leben zu genießen.
Sein Leben war perfekt, entsprungen aus einem Märchen, und auch wenn dem König eine Königin an seiner Seite fehlte, so lebte er doch glücklich mit seiner Tochter.
Ihre strahlenden blauen Augen brachten ihn immer wieder zum Staunen und ihr unbeschwertes Lachen entrang ihm selbst in Zeiten größter Not ein Schmunzeln.
Glückliche Momente verbrachte er mit der Prinzessin.
Mal waren sie auf einem grünen Hügel, wo sie einfach nur dalagen und dem Himmel zusahen, wie er ein neues Märchen erschuf. Mal sprangen sie in der Nacht um das Lagerfeuer und versuchten die kleinen, leuchtenden Feen zu fangen. Aber meistens waren sie in der Burg, bauten weitere kleine Burgen aus Kissen und Höhlen aus Decken und Schiffe aus Kisten und Brettern.
Sie hatten ihren eigenen kleinen See im Vorgarten. Einen See, in dem Nixen schliefen und verzauberte Frösche mit den Fischen in Freundschaft Lieder sangen. Und einen kleinen Blumengarten, angefüllt mit summenden Bienen, die zum Frühstück, zahm, ihren Honig zu der Prinzessin brachten. Sie hatten Tiere hier. Exotische Tiger, die wie Katzen mit ihnen spielten und schnurrten, wenn man sie kraulte.
Ihr Leben war perfekt.
Der König war der Prinzessin immer treu und die Prinzessin war froh, so einen König zu haben, frei lachen zu können und in diesem Märchen zu leben; und so lebten sie glücklich und zufrieden bis zu dem einen Abend.
Es war ein ereignisreicher Tag in der Märchenwelt und die Sonne neigte sich gen Boden.
Sie lächelte noch einmal dem Mond zu und verschwand dann, ließ das Zimmer der holden Prinzessin immer dunkler werden, bis nur noch das Kerzenlicht von ihrem Betttischchen ihr Zimmer erleuchtete.
Der König saß neben ihr, schon in seinen weißen Gewändern, die er zum Schlafen bevorzugte und las noch aus einem Buch vor. Er las und las, bis die Augen der Holden immer schwerer wurden und sie wie von selbst zufielen.
Dann stand der König auf. Leise war er, als er sich auf den Weg zu seinem Schlafgemach machte, so leise, dass er sie nicht weckte. Und der König ging zu Bett, streckte sich noch einmal und legte sich dann schlafen, in der Hoffnung seiner Tochter im Traum zu begegnen.
Doch plötzlich rüttelte es.
Das Bett bebte und von irgendwoher erklang ein tiefes Grollen und Poltern, als ob ein Drache versuchte die Burg zu erstürmen.
Der König schrak auf.
Das Grollen und Poltern wurde lauter. Von den unteren Etagen hörte er Glas und Porzellan auf dem steinernen Boden zerspringen und das dumpfe Geräusch fallender Bücher. Näher, immer näher kam der Drache, er rumorte und brüllte und der König war vor Angst und Entsetzen ganz starr, doch dann hörte er seine Prinzessin.
Sie schrie, rief nach ihrem König, ihrem Retter. Sie hatte mehr Angst als er und das wusste der König, und so rannte er los, eilte seiner Prinzessin zu Hilfe.
Die Treppen zu ihrem Gemach nahm er im Spurt, und auch wenn der schwelende Atem des Drachen ihm fast die Härchen im Nacken verbrannte, so wusste er doch, dass er es schaffen konnte, er konnte seine Tochter vor diesem Ungeheuer retten, so wie er sie auch vor den ganzen anderen Monstern schon gerettet hatte.
Und er schlug die Tür auf und sah die Prinzessin zusammengekauert unter einem Tisch. Der Drache war schneller als er. Mit einer von Dornen besetzen Pranke versuchte er die Prinzessin zu erhaschen und sie mit zu sich in die Tiefen zu ziehen. Doch das ließ der König nicht zu.
Mutig zog er sein Schwert und rannte auf das Ungeheuer zu. Er stürzte sich in den Kampf, hieb und schlug nach dem Ungetüm, doch das Monster war stärker. Und der Drache brüllte und spie Feuer und hob die Pranke und dann...

Und dann fiel ihr König und ihr weißer Ritter und mit ihm fiel die Burg und wurde von dem geheimnisvollen Ort, den die Prinzessin so sehr liebte zu dem tristen und leeren Haus, das es war. Die Geschichten zerbrachen, zersplitterten, wie das Glas auf dem marmorierten Boden, als das Beben angefangen hatte und zurück blieb nur die Prinzessin.
Einsam und allein, weinend um ihren König, weinend um ihre Welt.
Und aus dem Rufen nach ihrem Ritter wurden Schreie nach ihrem Vater und ihre Zauberwelt erlosch.

Das Grab war verwittert,
Kaum besucht und gepflegt, war es nur ein kleines Quadrat überwuchert von Unkraut und vergilbtem Gras in einem Garten Eden für die Ruhenden. Verlassen, fast vergessen in der hintersten Ecke des Friedhofes. Besucher sah es kaum. Nur selten kam jemand vorbei und legte ein paar Schweigeminuten ein. Fremde besahen sich manchmal dieses Elend und beteten für den Gestorbenen. Doch die Familie blieb aus.
Außer heute.
Schwarz angezogen, die Wangen von Tränen benetzt, stand die Prinzessin da, doch aus der Prinzessin war eine Frau geworden. Kein kleines Kind mehr, das Märchen nachjagte, sondern eine Erwachsene, die ihre Träume verwirklichte.
Sie wusste nun, dass es keine Märchen gab, es gab nur Träume die man leben konnte oder nicht. Das Leben war das, was man aus ihm machte und auch, wenn sie es so schmerzlich lernen musste und so lange brauchte, nun akzeptierte sie es. Auch wenn es weh tat, sie war nun erwachsen, sie war groß, und sie war stark, stark genug, um ihren König endlich ruhen zu lassen.
Langsam kniete sie sich hin. In ihrer Hand hielt sie ein Bild von sich und ihm, ein Bild wo er noch König und sie noch Prinzessin war und legte es auf das Grab hinab.
"Mögen Engel dich beschützen, mein König", wisperte sie, als sie sich von ihrem weißen Ritter verabschiedete, um ihm seinen verdienten Schlaf zu gönnen.

*ende*
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