Catherine

Hallelujah

Leichtfüßig tänzelte sie durch die leere Wohnung, sie berührte die grünbläulichen, leicht rissigen Betonwände, fuhr mit den nackten Füßen über den kalten Steinboden. Wie sie diese Wohnung liebte, fast so sehr wie ich sie.

Wenn ich mich so an sie erinnere, überlege ich ständig, was geschehen wäre, hätte ich ihr auch nur zu irgendeinem Zeitpunkt unserer Freundschaft gesagt, was ich für sie empfand.
Für mich war sie das wundervollste Geschöpf, das diese Welt je gesehen hat. Jemals.

Die Räume unserer ersten Wohnung waren groß, gerade waren wir im Schlafzimmer, 18qm, quadratisch, mit einem winzigen Balkon mit schwarzer Eisenabgrenzung.
Der Raum war vollkommen leer, nur die weißen, halb durchsichtigen Vorhänge hatte sie aufgehängt und ihren CD-Player in die Steckdose gesteckt.

„Hallelujah“ lief schon zum dritten Mal, welche Version weiß ich nicht, denn ich konnte mich nur auf ihr leises, gefühlvolles Mitsingen konzentrieren. Auch wenn heute noch irgendwo dieses Lied gesungen wird, in diesen verhassten, gefälschten Castingshows, die nur zur Belustigung anderer dienen, im Radio, von den neusten minderjährigen Popsternchen, ich höre gleich nach den ersten paar Akkorden immer nur ihre Stimme.

Diese elfenhafte, zarte Stimme, voller Mitgefühl und Liebe.
Ich glaube ich habe nie aufgehört, sie zu lieben. Ihre Art, ihr Lachen, ihre gesamte Erscheinung ist für mich immer noch wie ein Traum, als wäre für kurze Zeit ein Engel auf die Welt geschickt geworden, von Gott persönlich, nur damit ich dieses Glück und diese Schönheit zu Gesicht bekomme. Verdient habe ich sie nie.

Schwungvoll öffnete sie die Fenster, ein kühler Frühlingslufthauch fegte durch den Raum und wehte die Vorhänge im Wind. Der Anblick war wunderschön; ihre zierliche Figur, die helle Haut, überseht mit feinen, hellen Sommersprossen, umschmeichelt von diesem Bodenlangen, weißen Baumwollstoff, der das Licht durchscheinen ließ und mehr von ihrer Haut zu sehen lies. Ihr rabenschwarzes Haar, dass zum Pferdeschwanz gebunden immer noch chaotisch, leicht lockig bis zu den hervorstehenden Schulterblättern flossen. Sie war viel zu dünn.

Mit einem „Joselin, schau dir das an!“ holte sie mich zurück in die Gegenwart. Ich starrte sie an, sie starrte zurück, ihre dunklen Augen über all den Sommersprossen funkelten mich an. Sie lachte und kam zu mir, nahm meine Hand und zog mich zum Balkon.
Jede Berührung mit ihrer weichen, warmen Haut brannte auf mir wie Feuer, doch nie hatte ich es gezeigt, nie anmerken lassen. Schließlich waren wir beste Freundinnen.

Ihr glockenhelles Lachen beflügelte mich, dann stützte sie sich auf die Umrandung und zog sich nach vorne, Wind blies ihr ins Gesicht und sie schloss die Augen, um ihn ganz zu genießen. Sie genoss alles, sie liebte alles. Die Aussicht war wohl prächtig, sie sagte auch später noch, wie grün die Bäume waren, wie zart rosa die Blüten blühten, wie die ganze Welt nach Frühling und Neuanfang duftete.

Wenn alles neu anfangen durfte, warum nicht sie?
Als ich sie wieder ansah, hatte sie sich eine rosa Blüte hinter das linke Ohr gesteckt und hielt eine in der Hand. „Komm her, Joselin!“, lachte sie und zog mich an meiner Hand näher an sie heran. Dann steckte sie mir die Blüte ins Haar, doch sie fiel sofort wieder heraus. „Oh, lass es lieber, ich glaube nicht, dass sie in meinen Haaren hält, viel zu glatt...“, murmelte ich ihr entgegen, doch schon war auch mein Haar geschmückt. „Wie schön du bist!“, flüsterte sie, als würde es laut ausgesprochen an Ernst verlieren.

Doch nichts und niemand auf der Welt war schöner als das Wesen vor mir.
Nach ihrem Tod habe ich niemanden mehr geliebt, nie wieder. Nie wieder konnte mich jemand so sehr berühren, niemand war so rein, so warmherzig.
Nie wieder verspürte ich den akuten Drang, jemanden in die Arme zu schließen, niemals wieder tat ich es. Sie weinte nachts manchmal, weil sie Angst hatte. Nicht vor dem Sterben, sondern ihre Geliebten zurückzulassen.

Ihren Freund, mit dem sie seit der 10ten Klasse zusammen war, der nie auf ihrer Beerdigung war, da er drei Wochen nicht aus seiner Wohnung ging. Ihre Familie, ihren kleinen Bruder, ihre Eltern, ihre Cousinen und ihren Onkel. Vor allem ihre Mutter konnte nicht aufhören zu weinen. Und mich, ihre beste Freundin, die immer an ihrer Seite war. Und sie immer von ganzem Herzen geliebt hatte, seit der Grundschule. Die ihre Freunde gehasst hatte, die sie im Gymnasium fand, da sie nun teilen musste. Die ihre Tränen liebte, und ihr Lachen.

Ich liebte sie, er liebte sie und sie liebte ihn.
Auf ihrer Beerdigung trug ich das furchtbare, bunte Kleid, dass ich einmal genäht hatte. Es war rot, gelb und grün. Ich hasste es wie die Pest, doch Catherine liebte es, sie bewunderte mich. Ich nähte ihr oft Kleider und alle waren furchtbar, doch alle waren ihre Lieblingskleider. Die Sonne schien, die Vögel sangen, Kinder spielten auf der Straße an ihrem Geburtstag. Alles passte perfekt zu ihrem Charakter, sie liebte das alles. Es war, als hätte sie Gott gefragt, ob er ihr die Beerdigung versüßt und er hatte ihr den Gefallen liebend getan.

An ihrer Beerdigung konnte ich keinen anderen Gedanken fassen, als ihr zu folgen, endlich vor mir selber zu fliehen, mir die Pulsadern den ganzen Arm herunter aufzuschlitzen, vom höchsten Hochhaus zu springen, mir ein ewig teures Hochzeitskleid zu kaufen, es mit Gewichten zu beschweren und in irgendeinen Fluss zu tauchen. Doch niemals könnte ich weiter daran denken, denn ich weiß, wie sehr es Catherine schmerzen würde.

Nach drei Wochen klingelte Nick an der Wohnungstür. Ich machte auf, auch ich war nicht aus unserer Wohnung gegangen.
Wir haben nicht miteinander gesprochen, doch die nächsten zweieinhalb Monate verbrachten wir gemeinsam in der alten Wohnung. Keiner von uns konnte loslassen, wir beide suchten in der Wohnung ihre Spuren und Nachlässe. Keiner von uns konnte loslassen, er weinte den ganzen Tag und war ein verdammter Waschlappen.
Keiner von uns konnte je loslassen. Dann ging er eines Morgens.
Vor einem halben Jahr erreichte mich seine Hochzeitseinladung, er und irgendeine „Michelle“. Ich war nie da.

Ich wurde gefeuert, weil ich nicht zur Arbeit erschien. Ich verlor meine Freunde, weil sie mir egal waren und ich ihr an der Tür klingeln ignorierte. Meine Eltern ließen sich scheiden, doch ich bekam es nicht mit, der einzige Kontakt, der ich mit ihnen hatte, war, dass sie die Miete zahlten. Sie sahen es als Tribut dafür, dass ich mich nicht in ihre Angelegenheiten einmischte und ich konnte weiter bei Catherine bleiben. Der Herbst war noch warm, doch der Winter war eiskalt. Dann war wieder Frühling.

Und ich merkte, das Catherine nicht mehr in der Wohnung war. Ich bemerkte es beim Duschen, auf einmal war sie weg. Ich sah sie nicht mehr, wie sie morgen sich ewig lang auf einem Bein die Zähne putzte und es „Massage für den Mund“ nannte. Ich sah sie nicht mehr in der Küche, wie sie Sonntagmorgens Spiegelei briet und mit Ketchup Blumen auf den Teller malte. Und das Bett im Schlafzimmer war leer.

Panisch rannte ich aus der Wohnung, vergaß, die Tür zuzuhauen oder mir Schuhe anzuziehen. Ich rannte zum Bäcker, wo sie arbeitete, doch die Verkäuferin kannte nicht mal ihren Namen. Also nannte ich sie Hure und rannte weiter. Zur Uni, an der wir beide studiert hatten, in die Vorlesesäle. Sie wollte Kindergärtnerin für Behinderte werden, doch dann verließ sie ihre Kraft und Konzentration. Ein paar lernende Studenten sahen mich bitter an, dann fing ich an zu weinen und stürzte weiter. Sie war weder in unserer Grundschule, noch auf dem Spielplatz, auf dem wir als Kinder gespielt haben, auf dem ich mich in sie verliebt hatte.
Als ich das nächste Mal aufsah, stand ich vor dem Haus ihrer Eltern. Ich klingelte nicht, stattdessen ging ich wieder nachhause.

„Jeder Mensch hat eine Eigenschaft, die er von Gott persönlich hat, etwas, dass nur er in diesem Ausmaß besitzt.“, erzählte mir Catherine irgendwann. „Manche erreichen immer alles, was sie anpacken, ihr Ehrgeiz ist unglaublich. Manche haben solch einen starken Willen, dass selbst der größte Verlust ihnen nichts anhaben kann. Manche Menschen können andere Begeistern und Funken sprühen!“ Catherine konnte rein sein. Catherine war rein. Sie konnte nicht lügen, sie wurde jedes Mal tomatenrot, außerdem hasste sie es. Sie liebte alle Menschen, selbst diejenigen, die sie auslachten und provozierten, als ihr die Haare ausfielen.

Sie trug keine Mützen oder Tücher, sie liebte sich, wie sie war, und die Krankheit war eben eine Teil von ihr.
Von dem Tag an weinte ich, bis meine Tränen versiegten.
Dann, irgendwann nach sehr langer Zeit, fing ich an weiter zumachen.

Kein Mensch kann für immer trauern, sagten sie.
Und ich log ihnen jedes Mal ins Gesicht und sagte: „Ja.“
Ich suchte mir wieder Arbeit, ich wurde Bäckerin. Ich zahlte die Miete wieder selber.
Ich fand wieder Freunde, ich tat so, als könnte ich lachen. Ich tat es für Catherine.

Einer meiner Kollegen fragte mich, ob ich mit ihm ausgehen wolle, ich tat es. Am gleichen Abend verlor ich meine Unschuld, doch es bedeutete mir nichts. Ich fand den männlichen Körper ekelerregend, doch niemand sollte je herausfinden, wie sehr ich sie liebte.
Ich kam mit ihm zusammen, doch irgendwann muss er gemerkt haben, dass ich ihn nie geliebt habe, ich brach ihm das Herz. Meins spürte ja nichts.

Ich wurde fröhlicher, irgendwann machte das Backen mir Spaß. Ich fand wirklich Freunde.
Ich ging aus, ich tanzte. Meinen 30ten Geburtstag feierte ich groß mit einer Menge Leute. Ich kotzte zum ersten Mal in meinem Leben von Alkohol.

Und dann, irgendwann im Spätsommer lief ihr Lied wieder. Ich hatte gerade mit einer Freundin telephoniert, die mich „ihre Beste“ nannte, weswegen ich sie verachtete, doch
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