Schattennacht
widersprechen. „Nimm doch mich als Beispiel! Ich sehne mich nicht nach Konflikt, wie du behauptest! Ich möchte keinen Konflikt, sondern hier in aller Ruhe leben, hier mit dir.“
„Kein Wunsch nach Konflikt?“, wiederholte er, um kurz darauf das erste Mal, seit er seinen Bruder konfrontiert hatte, aus vollstem Herzen zu lachen, zu lachen, bis Tränen in seine Augen stiegen, sodass ihn die junge Frau zunächst perplex, dann jedoch zunehmend verletzt anblickte, da er sich über ihre Worte so sehr amüsierte, bis er japsend versuchte, sein Lachen unter Kontrolle zu bringen und ihr einen entschuldigenden Blick zuwarf. „Es tut mir Leid, Akane, aber du bist dir sicher, dass du kein Verlangen nach Krieg hast? Du widersprichst mir nicht nur und beginnst damit einen Konflikt sondern sehnst dich nach einem Leben mit dem Krieg selbst und behauptest dennoch, dass du keinen Wunsch nach Krieg hast?“
„Ich, aber“, murmelte sie verlegen ob ihrer eigenen Behauptung und der scheinbaren Implikation seiner Worte. „Aber was ist dann mit deinen Brüdern? Sicher hat niemand den Wunsch nach Hunger?“
„Sicherlich wünscht sich niemand, Hunger zu leiden“, stimmte er ihr zu, „doch zugleich hungert ein jedes Lebewesen. Hunger bedeutet Verlangen, Verlangen nach Essen, Verlangen nach Liebe, Verlangen nach Krieg, Verlangen nach Aufmerksamkeit, all das, wonach Lebewesen und besonders der Mensch hungern, ließ meinen Bruder entstehen. Der Tod ist, nun ja, der Tod. Er ist allgemeingültig, allgegenwärtig, allumfassend. Niemand kann ihm entgehen und deshalb ist er stets in den Gedanken und Gefühlen der Lebewesen. Und so wie jeder Mensch das Verlangen nach Krieg besitzt, so wünscht sich jeder Mensch, zu gewinnen, zu erobern, stolz mit einer Krone auf dem Haupt über den Besiegten zu stehen und mit ihnen zu spielen. Aus dem Leben sind wir entstanden und mit ihm werden wir vergehen.“
Langsam drangen die Worte ihres Meisters in ihr Ohr, sickerten wie aberhunderte Regentropfen durch den lehmigen Erdboden in ihren Kopf, und speisten dort den unsichtbaren Quell ihres Verständnisses über seine Person, seine Stellung, seine Brüder, und, als die seltsamen, unverständlichen Bilder der unbekannten Begebenheiten, derer sie während der Anwesenheit des Todes Zeuge wurde, vor ihrem inneren Auge vorbeizogen, seiner Aufgaben hier auf der Erde, und begann zu verstehen, was sie getan hatte, als sie sich in den Krieg verliebt hatte, doch verstand noch weniger als je zuvor, warum er sie, das einfache Bauernmädchen aus dem nahegelegenen Dorfe zu seinem Lehrling gemacht hatte, warum er sich in sie, gerade in sie, verliebt hatte.
„Du beginnst die Kriege“, folgerte sie schreckensbleich und blickte ihn ängstlich an. „Du beginnst die Kriege, so wie in der Wüste, als du die Banditen, nein, es waren keine Banditen, es waren Wachposten, umgebracht hast? Und dann nährst du dich von dem Leid, das du hervorgebracht hast?“
„Was?“, entgegnete der junge Mann den Schlussfolgerungen seines Lehrlings aufgebracht und verwirrt, doch legte zugleich seine Hand auf die vor Schrecken zitternden Hände der jungen Frau. „Wie kommst du darauf? Menschen sehnen sich nach Kriegen, davon lebe ich; und Menschen beginnen Kriege, ich beaufsichtige, ich kontrolliere sie lediglich, damit sie nicht außer Kontrolle geraten – warte! Woher, wie kannst du, die Wüste? Wie kannst du von dem Zwischenfall in der Wüste wissen? Das war lange vor deiner Geburt!“
Als hätte sich der junge Mann an der Hand seiner Begleiterin verbrannt, die das züngelnde Feuer ihres Wesens in sich trug, zog er seine eigene Hand, die er ihr als Zeichen seines Wohlwollens dargereicht hatte, erschrocken von ihrer hinfort, nur um seine Hand inmitten der Bewegung von ihren Händen eingefangen zu finden. Fest hielt sie die Hand ihres Mannes in ihren eigenen Händen, um sich selbst die Sicherheit zu geben, nach der sie sich so sehr sehnte, seine Berührung, jene Macht, die von jeder Pore seines Wesens ausging, genießend, während sie versuchte, in Worte zu fassen, was sie selbst nicht verstand.
„Ich weiß nicht“, begann sie zögerlich und zeigte ihm die Wahrheit ihrer Worte nicht nur durch ihren direkten Blick in seine azurblauen Augen sondern auch durch ihre Aura, die sie nicht länger zu bändigen versuchte, sondern frei ausschlagen ließ. „Als ich dem Alten in die Augen geblickt habe, ist mein Blick für einige Sekunden verschwommen und ich habe seltsame Dinge gesehen; ich wusste, dass sie wahr waren, obwohl ich dir nicht sagen kann, wie oder warum ich sie überhaupt gesehen habe.“
„Interessant“, hauchte er, als er ihren Worten gelauscht hatte, und blickte nachdenklich aus dem Fenster über den im Dunkel der Nacht verschwundenen See, bevor ihn die warmen Hände der jungen Frau, die seine Hand noch immer in ihrer geliebten Gefangenschaft hielten, durch ein liebevolles Drücken aus seiner fernen Gedankenwelt zu ihr zurückholten. „Was?“
„Ich habe dich gefragt, ob du weißt, was das war“, wiederholte sie ihre Frage, die der schwarzhaarige Zauberer offensichtlich nicht wahrgenommen hatte.
„Nein“, antwortete er ihr kurz angebunden, doch mit einem zauberhaften Lächeln, das ihr sagte, dass er noch immer seine fremden Gedanken nicht hatte abschütteln können, und seine spärliche Antwort nicht als Beendigung des Gespräches zu verstehen war.
„Bist du dir sicher?“, hakte sie nach.
„Ja, nein, vielleicht“, meinte er nachdenklich und stand erneut auf, diesmal aber, um ruhelos im Wohnraum der Hütte hin und her zu traben. „Ich weiß nicht, was das war, aber ich glaube, irgendwann einmal irgendwo etwas Ähnliches gelesen oder gehört zu haben, aber ich kann mich nicht erinnern. Ich weiß nur noch, dass es von ganz besonderen Menschen oder Wesen handelte. Je mehr ich mich bemühe, die Antwort zu finden, desto weiter scheint sie sich zu entfernen – es ist zum Verrücktwerden!“
Als Ranma frustriert vor dem Kamin stehen blieb, seine Arme hinter dem Kopf verschränkte und sich auf seine Unterlippe biss, spürte er, wie sich zwei schlanke Arme das zweite Mal an diesem Abend um seinen muskulösen Oberkörper legten, ihn zum zweiten Mal an diesem Abend aus seinen Gedanken rissen, und seinen Körper zum zweiten Mal an diesem Abend zu erwärmen schienen, sodass ein wohliger Schauer bis in seine Zehenspitzen kroch und die Frustration aus seinem Kopf verbannte. Sanft nahm er die Hände der jungen Frau in seine eigenen und drückte sie, um ihr zu danken, während ihr heißer Atem sein Ohrläppchen kitzelte, als sie ihm verlockende Worte zuflüsterte, die er beinahe nicht vernahm, da er sich nur auf die Präsenz der jungen Frau, ihren Körper, der gegen seinen gepresst war, konzentrierte.
„Manchmal ist es besser, an andere Dinge zu denken, denn dann erscheinen die schwer fassbaren Gedanken von alleine“, riet sie ihm, bevor sie ihre Wange an seinen Rücken legte. „Was meintest du, als du besonders sagtest?“
„Besonders“, flüsterte er in die warme Luft der Hütte. „Das Sehen von Vergangenem setzt eine besondere Person voraus, jemanden, der Veranlagungen hat, die ihn zu einer ganz speziellen Person machen.“
„Aber wie soll ich denn speziell sein?“, fragte sie ihn aufrichtig. „Ich bin nur…“
„Du bist nicht nur ein einfaches Bauernmädchen“, widersprach er ihr, bevor sie nur die Möglichkeit hatte, ihre Gedanken, ihre Befürchtungen auszusprechen, und drehte sich in ihrer Umarmung um, sodass er ihr direkt in die Augen blicken konnte, jene wunderschönen, braunen Augen, die ihn zugleich an das Natürliche der Erde, aber auch an die unvergleichbare Macht der sich bewegenden Erdmassen erinnerten. „Denkst du, ich hätte dich als mein Lehrling aufgenommen, wenn du nur ein einfaches Mädchen aus dem benachbarten Dorf wärest? Nein, als ich dich das erste Mal gesehen habe, habe ich ein beispielloses Potential in dir schlummern gespürt, das nur darauf wartete, genutzt zu werden. Und wie besonders du wirklich warst, offenbarte sich mir, als ich dein Spiegelbild nach deinem Bad sah: Es zeigte dir nicht, was war, sondern, was sein konnte. Es zeigte dir eine mögliche Zukunft!“
„Aber wenn das wahr ist“, meinte sie staunend und zog ihre Hände von seinem Rücken zu seiner Brust, um sich von ihm halten zu lassen, anstatt ihn zu halten, „warum hast du mir dann nichts davon gesagt?“
„Wie sollte ich, wenn ich selbst nicht wusste, was passierte?“, entschuldigte er sein Schweigen mit einer Frage, während er die Nähe zu ihr genoss. „In jedem Moment, in dem du nicht bei mir warst und mich diese elendigen Bittsteller haben in Ruhe gewähren lassen, habe ich versucht, diese Teile zu einem Ganzen zusammenzufügen, das mir erklären konnte, wer du bist oder welche verborgenen Talente in dir schlummern. Ich habe alte und neue Schriften gleichermaßen in der Hoffnung, irgendetwas zu entdecken, studiert; bis heute war ich zwar erfolglos, aber durch den Besuches meines Bruders habe ich vielleicht ein wichtiges Teil dazu gewonnen.“
„Was wollte dein Bruder eigentlich hier?“, fragte die junge Frau, die sich in den Armen ihres Meisters so geborgen fühlte, als wäre sein Wesen, in dessen Mitte sie sich befand, eine Oase der Stille inmitten eines tobenden Sturmes, doch spürte sie plötzlich, wie ihre Worte bedingten, dass sich die Muskeln ihres Mannes verkrampften. „Was ist los?“
„Er hat meine Augen geöffnet“, knurrte Ranma und trat aus der Umarmung zurück, sodass ihn Akane verwirrt anstarrte.
„Was ist los?“, fragte sie noch einmal und blickte ihn besorgt an. „Wofür hat er deine Augen geöffnet?“
„Er hat mir gezeigt, dass wir gebraucht werden“, presste er aus seinen zusammengebissenen Zähnen hervor, die zwei Silben des vorletzten Wortes besonders betonend, ohne sie jedoch anzublicken.
„Was meinst du damit?“, hakte Akane verwirrt nach und zwang ihn,