Schattennacht

stumm auf der Türschwelle verharrte, blickte der schwarzhaarige Mann von seiner Beschäftigung auf und betrachtete die Frau erstaunt.

Weder die offensichtliche Vernachlässigung durch ihre Familie, die sie wohl aufgrund der Armut des Dorfes, in dem sie lebte, oder des Winters erlitten haben musste, und ihre daraus resultierende Unterernährung noch ihr zerrissenes, schmutzig weißes, von dünnen Trägern gehaltenes, schulterfreies Kleid, das ihre seidenweiße Haut an vielen Stellen nur unzureichend und ihre Knie nur knapp verdeckte, noch ihre von Schnittwunden verunstalteten Unterarme noch ihr schmutziges Gesicht und ihre verschmutzten, kinnlangen, blauschwarzen Haare vermochten, die unvergleichbare Eleganz und verborgene Schönheit der jungen Frau zu mindern, deren hasselnussbraunen Augen unruhig auf seinen azurblauen Augen und ihr einen unnatürlichen Glanz verliehen. Sein unter einem wärmenden roten Hemd verborgenes Herz schlug schneller, als sie ihre Augen schüchtern niederschlug.

Auch die junge Frau betrachtete den Zauberer einige Momente interessiert, bevor sie ihren Blick auf den hölzernen Boden senkte. Seine mittellangen, schwarzen Haare, sein markantes Gesicht, das von kurzen Bartstoppeln bedeckt war, seine harten, doch bezaubernd blauen Augen, seine sich unter dem dicken Hemd abzeichnenden Muskeln, seine raue, tiefe Stimme, all das gab dem Bewohner des Hauses trotz seines jungen Alters eine unverwechselbar männliche Art, die sie, da es in ihrem Dorf keinen annähernd ihrem Alter entsprechenden Mann gab, für den sie sich interessierte, magisch anzog.

„Du musst frieren, du hast ja kaum etwas an! Komm rein, hier ist es warm“, bot er ihr freundlich an.

„Danke, Herr, aber mir ist nicht kalt“, flüsterte die junge Frau mit zitternder Stimme, während sie sich ihre Hände rieb und kleine Atemwölkchen aus ihrem Mund an die Kalte Luft drangen, nicht bemerkend, dass sich die Augen des Mannes für wenige Sekunden verdunkelten, bevor er resignierend aufstand, zu ihr trat, ihre kalten Hände in seine nahm und die zögernde Frau kopfschüttelnd und mit sanfter Gewalt zu einem Stuhl nahe des Feuers bugsierte, auf dem sie sich schließlich niederließ, nachdem er die Türe geschlossen hatte.

„Welche Geschichte ist es dieses Mal?“, fragte er traurig, zog seinen eigenen Stuhl zu ihrem und setzte sich darauf. „Wirst du verzaubert, sobald du meine Türschwelle überquerst oder verwandle ich mich in einen Wolf und zerreiße dich, wenn du zu lange in meinem Haus verweilst?“

„Beides, Herr“, murmelte die junge Frau lautlos und versuchte die Tränen, die sich in ihren Wimpern sammelten, hinfort zu blinzeln, als sie vom plötzlichen, tonlosen, bellenden Lachen des Mannes neben ihr erschreckt wurde, das nach wenigen Sekunden wieder erstarb.

„Ich bin nicht dein Herr, also nenne mich nicht so“, lächelte er ihr zu und streckte seine Hände dem warmen Feuer entgegen, in das er so intensiv starrte, dass er die Anwesenheit der jungen Frau beinahe vergessen zu haben schien. „Ich bin Ranma, Ranma Saotome, und wer bist du?“

Die junge Frau versuchte, ihm zu antworten, doch gelang es ihr nicht; sie hatte alles in diesem Haus erwartet, das Grauen persönlich war ihr von ihren Eltern und Freunden geschildert worden, ja, sie hatte sogar erwartet, hier sterben zu müssen, und all das hätte das Folgende einfach gemacht, doch der junge Mann war freundlich zu ihr, behandelte sie wie eine gleichrangige Person. Langsam perlten die Tränen ihre Wangen hinab, kitzelten ihre samtene Haut und fielen wie weiße Schneeflocken, die der Winter mit sich bringen würde, auf den hölzernen Boden. Bevor sie wusste, was sie tat, fiel sie in die Arme des Zauberers und weinte an seiner Schulter, weinte die Angst aus ihrem Herzen, weinte um ihr Schicksal, weinte, weil es ihr neue Kraft gab, während der junge Mann sie stumm hielt, weinte sich die Wut von ihrer Seele, die Wut auf sich selbst, die Wut auf die Freundlichkeit ihres Gastgebers, die Wut auf ihre Eltern, bis sie sich wieder beruhigt hatte.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Ranma vorsichtig, als er sie an seiner Schulter schluchzen, aber nicht mehr weinen spürte.

„Ja, Herr“, murmelte sie und blickte kurz zu ihm auf, bevor sie von ihm unterbrochen wurde.

„Ranma!“, meinte er streng und lächelte ihr sanft zu.

„Ranma“, wiederholte sie mit einem zittrigen Lächeln, das ihre Züge erhellte und sie noch schöner aussehen ließ. „Es, es tut mir Leid, ich, ich wollte nicht, ich meine, ich habe erwartet, aber, ich weiß nicht.“

„Ganz ruhig, sonst verstehe ich nichts“, sagte der junge Mann und erinnerte sie damit daran, dass er nicht wusste, wer sie war oder warum sie überhaupt zu ihm gekommen war. „Warum fängst du nicht damit an, mir zu sagen, wer du bist und warum du hier bist? Dann kann ich vielleicht verstehen, was du meinst!“

„Ich bin Akane Tendo“, erzählte die junge Frau nach einigen Momenten der Ruhe, in denen sie ihre Tränen getrocknet, sich aus seinen Armen befreit und ihre Atmung beruhigt hatte. „Ich bin hier, um eine Schuld zu begleichen, die meine Eltern vor einem Jahr bei dir aufgenommen haben.“

Ohne ihr mit einem Wort zu antworten, stand der schwarzhaarige Mann von seinem Stuhl auf, ging auf eines seiner Regale zu, blieb vor ihm stehen, seinem Gast den Rücken zudrehend, und nahm eine alte Schriftrolle von ihm, bevor er ihr schweigend bedeutete, einen Moment innezuhalten, damit er die Schriftzeichen in Ruhe studieren konnte. Schließlich drehte er sich wieder zu ihr um, nahm die Schriftrolle mit zu seinem Stuhl und setzte sich ihr wieder gegenüber.

„Tendo?“, fragte er mit einem Seitenblick auf die Schriftrolle. „Ich habe auf Bitten deiner Eltern eure Ernte vor einem wütenden Eber gerettet, nicht wahr? Ist das schon ein Jahr her? Die Zeit vergeht schnell.“

„Ja“, antwortete sie ihm mit einem gequälten Lächeln. „Und ich bin nun hier, um die Schuld zu begleichen. Die Ernte dieses Jahr war schlecht, und wir sind arm. Wir können dich nicht bezahlen, also bin ich hier, weil mich meine Eltern geschickt haben.“

„Genug!“, herrschte er sie an, warf die Schriftrolle zur Überraschung der jungen Frau in das Feuer und blickte ihr streng in die Augen. „Die Schuld ist beglichen. Geh jetzt zu deinen Eltern und sag ihnen das.“

„Aber wie?“, fragte die erstaunte Frau zögerlich, stand aber dennoch, seinem Wunsch folgend, auf. „Ich habe doch gar nichts gemacht!“

„Du hast heute mehr gemacht als man von dir erwarten darf“, antwortete er ihr sanft, während er sie nachdenklich zur Türe geleitete. „Nicht viele wagen es, durch meinen Wald zu wandern, nicht viele wagen es, in mein Haus zu treten und mit mir zu sprechen, nicht viele würden auf Geheiß ihrer Eltern ihre Unschuld opfern. Ich belohne Mut, und du hast heute mehr Mut gezeigt als viele Menschen in ihrem gesamten Leben aufbringen. Die Schuld ist beglichen, geh!“

Als der junge Mann die schwere Holztüre, die den Blick auf den ihr freundlich gesinnten Wald, der ihr jedoch im Dunkel der Nacht, die während ihres Gespräches hereingebrochen war, einen Schauder über ihren spärlich bedeckten Rücken laufen ließ, mit einem lässigen Schlenker seines linken Handgelenkes aufstieß, um seinen Gast hinauszubegleiten, bemerkte er, wie die junge Frau einen kleinen Augenblick zögerte, bevor sie über die Türschwelle trat, und sich schließlich noch einmal zu ihm umdrehte. Lächelnd schloss er seine azurblauen Augen und bedeutete ihr mit seiner erhobenen linken Hand, noch nicht zu gehen, sondern auf ihn zu warten. Mit schnellen Schritten verschwand er in seinem Haus, bevor er mit einem schlichten, weißen Umhang zurückkehrte.

„Hier, nimm den“, meinte er und legte ihr den wärmenden Umhang vorsichtig über die Schulter. „Und hab keine Angst vor dem Wald. Alle Tiere, die in ihm leben, sind meine Freunde, sie werden sich dir nicht einmal zeigen.“

„Ich bin, ich, du, ich kann das nicht annehmen“, flüsterte die junge Frau und griff nach dem Umhang, um ihn seinem Besitzer zurückzugeben, als sie seine starke Hand auf ihrer Schulter spürte; unbemerkt von der jungen Frau schlich sich in diesem Moment neben dem wundervollen Gefühl der Erleichterung, das sich in ihrem Herzen ausgebreitet hatte und die große Last, die es getragen hatte, Stück für Stück wie einen großen Stein, der von einem hervorragenden Steinmetz perfekt bearbeitet wird, zerschlug, und der unaussprechlichen Dankbarkeit für seine Taten, ein ihr unbekanntes Kribbeln in ihren Bauch, das ihre Lippen zu einem verlegenen Lächeln verleitete und ihre Wangen mit einem zarten Rot anhauchte.

„Keine Widerrede“, mahnte er sie heiter und lächelte ihr ebenso zu. „Es ist bitterkalt und du hast noch ein ganzes Stück zu laufen. Versprich mir nur, dass du ihn nicht verlierst, denn er gehört meiner Mutter.“

„Ja“, nickte Akane dankbar, schlang sich den Umhang fest um ihren schlanken Körper, um sich vor der winterlichen Kälte zu schützen und fügte nach einer kurzen Pause verlegen an: „Im Dorf werden die schrecklichsten Geschichten über dich erzählt. Du wirst als Monster dargestellt, und dabei bist du so normal und sogar freundlicher als alle anderen! Ich werde es allen erzählen!“

„Tue das nicht“, glaubte sie seine wunderschöne Stimme traurig über das Knarren der langsam zwischen sich und ihn fallenden Holztüre flüstern zu hören, die seine Züge, bevor sie diese gänzlich vor ihren Blicken versteckte, in tiefe Schatten warf. „Du würdest dich damit nur selbst ausstoßen, denn sie würden dir keinen Glauben schenken.“

Nachdem die Türe in das Schloss gefallen war, drehte sich der schwarzhaarige Mann hastig um und versuchte, seine unregelmäßige Atmung zu beruhigen, da die längst akzeptierte Bitterkeit über den Ausschluss aus dem Dorf plötzlich von Neuem Einzug in sein Herz
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