Schattennacht

ihr in die Augen zu blicken, indem sie seine Wangen in ihre Handflächen nahm und seinen Kopf zu ihr neigte. „Was ist los? Wie können deine Brüder und du von jemandem gebraucht werden?“

Langsam, doch bestimmt entwand sich der junge Mann dem Griff seines Lehrlings, ballte seine Fäuste, und schloss seine Augen, da er versuchte, dem beengenden Gefühl ihrer Berührung, dem spärlichen Platz der kleinen Holzhütte, der einseitigen Einengung seines Selbst zu entkommen, doch vermochte all das, was ihm unsichtbare, eiserne Ketten anlegte, die ihn an seine Form banden, nicht abzuschütteln. Nach einigen Momenten schüttelte er traurig den Kopf und ging gemäßigten Schrittes auf den Tisch zu, von dem er das lederne Buch nahm, und seine folgenden Worte mehr an es denn an die junge Frau, die ihm die Frage gestellt hatte, zu richten schien.

„Gott“, meinte er abfällig und blickte mit solchem Abscheu auf das Buch, dass Akane befürchtete, er würde es sogleich in das lodernde Inferno des Kamins werfen. „Er ruft uns und wir sollen gehorchen.“

Mit einem einzigen Gedanken, einer sich stetig wiederholenden Frage, in welche absurde, aberwitzige Bahnen ihr Leben in den letzten Stunden dieses Tages geraten war, taumelte die junge Frau ungläubig zwei Schritte von Ranma und dem Buch zurück, bis sie gegen die Kante ihres Stuhles stolperte und auf ihn fiel; dort sitzend schloss sie ihre wunderschönen Augen für einen kurzen Moment und atmete tief ein und aus, um ihr vor Aufregung viel zu schnell schlagendes Herz zu beruhigen, während sie versuchte, den Gedanken aus ihrem Kopf zu vertreiben, und ihrem Meister stattdessen eine angemessene Antwort zu geben.

„Gott?“, fragte sie. „Gott existiert?“

„Ja und nein“, knurrte er, nicht bemerkend, wie schockiert die junge Frau ob seiner Antwort war. „Ich habe dir gesagt, dass wir das Aufkommen und Verschwinden zahlloser sogenannter Götter beobachtet haben. All diese Götter sind nicht als übernatürliche Wesen irgendwann einmal entstanden, sondern als einfache Menschen mit besonderen Talenten geboren worden; die einen waren besonders stark, die anderen schlau, wieder andere geschickt in Handwerk oder anderen Dingen. Wegen dieser Talente wurden sie verehrt und schließlich angebetet.“

„Aber wie soll denn aus einem Mensch ein Gott werden?“, unterbrach ihn Akane noch immer zutiefst schockiert mit ungläubiger Stimme.

„Sie sind genau wie wir entstanden“, sagte er und blickte sie das erste Mal, seitdem er das Buch geholt hatte, an. „Eine Verehrung, ein Gebet, ist im Grunde nichts anderes als ein unterbewusster Wunsch, ein Verlangen und wenn genug Menschen einen sogenannten Gott anbeten, sich nach einer höheren Macht sehnen, dann absorbiert die Seele des Angebeteten jenes Verlangen, jenen Wunsch, jene Emotionen, wird größer, stärker, bis er, solange genug Menschen an ihn glauben, zu einem übernatürlichen Wesen wird, verflucht, auf der Erde zu weilen, bis er wieder zu einem Menschen wird und sterben kann.“

„Also, also gibt es einen Gott, aber er wird uns nicht helfen, wenn wir ihn brauchen?“, versuchte Akane zu verstehen, was er ihr gesagt hatte.

„Macht korrumpiert jede Seele“, gab er ihr als entschuldigende Antwort, da er sah, wie mitgenommen sein Lehrling aussah. „Gott greift in die Welt ein, aber nicht, um euren Alltagssorgen entgegenzutreten, sondern dann, und nur dann, wenn die Menschen weniger an ihn glauben, sein Glaubensgebiet bedroht, oder er einen Streit mit einer anderen Gottheit hat. Wenn ihr einander wirklich helfen wollt, warum versucht ihr dann nicht, auch nur die Hälfte der Zeit, die ihr damit verbringt, einen Gott anzubeten, zu nutzen, um einander zu helfen? Nein, die Menschen wollen nicht einander helfen, sie wollen Hilfe, ohne helfen zu müssen; deswegen hattet ihr auch schon immer Götter.“

„Aber warum kontrolliert er euch?“, flüsterte Akane, die seinen zunächst widersinnig erscheinenden Worten immer mehr Glauben schenkte, als die Teile, die sie selbst bereits so oft gesehen hatte, jedoch nie auf die Idee gekommen war, sie zu hinterfragen, geschweige denn zusammenzusetzen.

„Ich habe viele Götter gesehen und gekannt“, antwortete er ihr, während er das Buch auf dem nahegelegenen Tisch ablegte, zu ihr trat, und sich vor ihrem Stuhl auf den Boden setzte. „Normalerweise hat eine bestimmte Region viele Götter, von denen einige längere Zeit regieren, anderen sehr schnell wieder in Vergessenheit geraten, sodass kein Gott wirkliche Macht besitzt. Wir haben uns also nie richtig für die sogenannten Götter interessiert und deshalb den Aufstieg eines einzelnen, ambitionierten Gottes vernachlässigt. Mit Geschick und Skrupellosigkeit verschaffte er sich langsam und überregional eine Monopolstellung, die ihn mächtiger werden ließ als alle Götter vor ihm zusammen. Er wurde so mächtig, dass er einzelne, ihm besonders wohlgesinnte Menschen zu sich rief, sie zu Wesen machte, die nicht Mensch und nicht Gott sind, seine persönliche Garde, die Engel, deren vier mächtigste die vier Winde der Welt vor uns halten, sodass wir die Welt außer durch die Schatten unserer Selbst, die hier verweilen, nicht mehr beeinflussen können.“

„Aber wie kontrolliert er euch dadurch?“, fragte sie noch einmal.

„Nun, wann immer er möchte, kann er seinen Engeln befehlen, die Winde erneut frei zu lassen“, meinte er ernst. „In jenem Moment, in dem wir wieder freien Zugriff auf die Welt haben, überschattet die Natur unserer Wesen unseren Verstand und wir jagen wie Bluthunde über die von ihm bereitete Welt, um das jahrelang aufgesammelte Potential möglichst schnell zu fassen. Einmal hat er es bis heute getan. Die Konsequenzen waren schrecklich.“

„Aber wenn er euch vollkommen in eurer Hand hat…“

„Nicht vollkommen“, unterbrach der junge Mann den Einwurf seines Lehrlings mit erhobenem Zeigefinger. „Wir haben, sobald wir nach dem ersten Mal bemerkt hatten, was er getan hatte, Gegenmaßnahmen ergriffen und unsere Macht in ein Buch mit sieben Siegeln verschlossen.“

„Wieso?“, fragte sie neugierig und warf einen kurzen Seitenblick auf das am Tisch liegende Buch.

„Ja, Akane“, bestätigte er ihren Verdacht, nachdem er ihrem Blick gefolgt war. „Wir haben unsere Macht verschlossen, um seine Flexibilität und damit seine Machtsicherung einzuschränken. Er kann die Welt präparieren, doch er weiß nicht, wann unsere Siegel gebrochen werden.“

„Gebrochen werden?“, wiederholte sie verwirrt. „Brecht ihr sie nicht selbst?“

„Nein, wir können die Siegel nicht brechen“, seufzte er und nahm ihre Hand in seine. „Es liegt nicht in unserer Natur, eingesperrt zu sein, und deshalb wäre die Verlockung, die Siegel einfach zu brechen, um wieder frei zu sein, viel zu groß. Nein, ich bin der Hüter und das Schloss, die Siegel zu brechen, aber den Schlüssel besitzt jemand anders, jemand, den Gott nicht finden und zwingen kann, die Siegel nach seinem Willen zu öffnen, da weder wir wissen, wer es ist noch er selbst weiß, dass er den Schlüssel besitzt – bis heute dachte ich, dass die Siegel intakt wären, da die Möglichkeit, sie zu brechen, so gering ist, dass wir damit rechneten, für hunderte von Jahren eingesperrt zu bleiben.“

„Aber was ist der Schlüssel für die einzelnen Siegel?“, fragte sie gespannt.

„Das erste Siegel setzt einen meiner Brüder, die Eroberung, frei“, hauchte er. „Doch damit mein Bruder erobern kann, muss es etwas zum Erobern geben: das Herz einer Frau. Das Herz einer Frau, das sie dem Krieg mit einem Kuss geschenkt und damit das zweite Siegel gebrochen hatte, das mich freisetzt. Das dritte Siegel gibt den Hunger frei, indem die Liebe in ein unzähmbares Verlangen überschlägt. Das vierte Siegel setzt den Tod frei, indem sich der Schlüssel den Tod wünscht, den Tod eines anderen oder aber seinen eigenen. Das fünfte Siegel offenbart die Seelen der für Gott verstorbenen, die nur wenige Menschen überhaupt zu sehen vermögen, da es die Vergangenheit ist, die sie sehen müssen. Kommt dir das irgendwie bekannt vor?“

„Ich, ich bin der Schlüssel, die Siegel zu brechen?“





Puh, das letzte Update liegt schon beinahe ein halbes Jahr zurück – und dann kommt so ein langweiliges, erklärendes Kapitel! Na toll, vielen Dank auch, Herr Autor! Aber wenigstens ist jetzt die Grundlage für die Geschichte per se gelegt. Damit geht auch die Versicherung einher, dass die nächsten vier Kapitel eine reine Mischung aus wenig, aber intensiver Romantik, bisweilen ein wenig Humor, viel Spannung, Abenteuer, und vor allem eine ganze Menge Dramatik beinhalten werden, die zum Abschluss des ersten Teils von Schattennacht kulminieren wird. Viel Spaß beim Lesen!
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