Hand in Hand
Hand in Hand
Es ist dunkel. Kein Licht der Stadt dringt zu mir durch die Nacht. Es fühlt sich an, als würde der Wald ein Schutzschild um mich bilden, mich abschirmen von der Welt dort draußen. Der grausamen Welt.
Im trüben Licht des Mondes kann ich nur die Konturen der hohen Tannen erkennen. Langsam lasse ich mich auf den kühlen Waldboden sinken. Wie spät ist es? Wie lange laufe ich schon umher?
Es ist egal. Alles ist egal geworden.
Mir ist kalt, schließlich ist es schon lange Herbst, und ich trage nur kurze Kleidung. Wieder eine meiner verfluchten Kurzschlusshandlungen. Wobei es ja eigentlich egal ist, ob ich jetzt krank werde oder nicht spielt keine Rolle mehr. Mit zitternden Fingern greife ich in meine Umhängetasche, durchwühle sie nach dem kleinen Block und dem Kuli, die ich immer darin aufbewahre.
Vorsichtig lehne ich mich an den Stamm der Tanne und ziehe die Beine heran um auf ihnen zu schreiben. Behutsam setze ich die Mine auf das Papier, schließe einen Moment die Augen, ehe ich zu schreiben beginne.
Ich lebte in dieser Welt, doch das heißt nicht, dass ich es mochte. Es mag egoistisch klingen, wo man mir doch das Leben geschenkt hatte, doch ich wollte es nicht. Lange Zeit hatte ich versucht den Schmerz zu ignorieren, mein Leben weiter zuleben. Aber irgendwann hat es nichtmehr funktioniert. Es tut mir Leid, aber ich konnte nicht mehr.
Mama, Papa. Ich liebte euch, und ich liebe euch noch immer. Deswegen habe ich nie etwas gesagt. Selbst jetzt fällt es mir schwer meine Probleme in Worte zu fassen.
Immer öfter habt ihr gestritten und ich sollte mich entscheiden. Aber wie sollte ich. Ich wollte keinen von euch verlieren. Das ist der Punkt, denkt bitte nicht, dass ihr Schuld habt, ich möchte nicht das ihr so denkt. Ihr wart lediglich ein Teil von einem großen ganzen. Einem ganzen genannt der Welt.
Es mag unverständlich klingen, und wenn ihr mir nicht folgen könnt möchte ich mich dafür entschuldigen. Es ist so, dass mir mein Leben bereits seit langem über den Kopf gewachsen ist. Es kam mir vor, als wäre mein ganzes Leben verplant, als hätte ich keine Sekunde mehr um durchzuatmen, mich für das kommende zu wappnen.
Mir ist klar, ihr habt es nur gut gemeint, dennoch war dies ein Grund. Der zweite, genauso wichtige Grund, ist die Schule. Wie gesagt, ihr habt es nur gut gemeint, habt wahrscheinlich gar nicht bemerkt wieviel Druck ihr auf mich ausgeübt habt. Lange hatte ich ein Ziel vor Augen, eines das ich wirklich erreichen wollte. Aber je näher der Tag der Entscheidung rückte, umso mehr wurde der Weg vor mir verschüttet.
Es war sinnlos es zu leugnen, es war klar, dass ich dieses Ziel wohl niemals erreichen könnte. Hätte ich euch das gesagt wärt ihr wütend geworden, und enttäuscht. Das wollte ich nicht. Es tut mir Leid, das ich nie die Tochter sein konnte, die ihr euch gewünscht hattet. Ich war nie perfekt. Eher das komplette gegenteil. Ständig habe ich euch sorgen gemacht, obwohl ich das doch verhindern wollte.
Das einzige was ich auf die Reihe bekommen habe ist, meinen Schmerz vor euch zu verbergen, und das viele Jahre lang.Eigentlich war das ja sinnlos, wo ihr es jetzt sowieso erfahrt. Bestimmt werdet ihr nicht verstehen warum ich geschwiegen habe, selbst wenn ich es euch erklären würde nicht. Trotzdem will ich es versuchen.
Mama, Papa. Ich glaube, dass ihr euch nicht mehr so liebt wie zu Beginn. Verzeiht diese unverschämte Behauptung, aber ich schließe das aus euren Worten. Kaum war ich mit einem von euch allein, zogt ihr über den anderen her. Wolltet, dass ich euch zustimme, doch jedes eurer Worte tat mir weh. Ich wünschte mir nichtsweiter, als das wir wieder eine glückliche Familie sind, wie damals als ich noch jünger war. Wobei, waren wir wirklich glücklich, oder war das nichts weiter als eine Lüge, eine Fassade?
Ich persönlich glaube, dass jeder Mensch eine Maske trägt, ob nun bewusst oder unbewusst. Um wieder auf den Anfang zurückzukommen, ich habe viele Gründe mein Leben zu beenden. Um es kurz zu machen, es bedeutet mir seit langem nichts mehr. Nur weil ich auch nicht allein lassen wollte, weil ich dich Luna nicht zurücklassen wollte, bin ich geblieben. Papa, Mama. verzeiht mir, dass ich es nicht länger ertragen habe euch so zu sehen. Verzeiht mir, dass ich es nicht geschafft habe mein Leben in den Griff zu bekommen.
Luna, auch dich bitte ich, mir zu verzeihen. Schließlich hast auch du viel für mich getan. Warst mir ein treuer Begleiter, deswegen habe ich ein sehr schlechtes Gewissen, einfach zu gehen. Zu fliehen wie ein Feigling, wo du mir doch immer gesagt hast, ich soll mutig sein. Stark sein.
Es tut mir Leid. Ich bin nicht mutig, ich bin nicht Stark.
Mama, Papa. Ich trenne das Blatt heraus, lege es neben mich, bevor ich den Block wieder verstaue. Als ich die Klinge ansetze fühle ich mich schuldig. Schrecklich schuldig.
Wer erlaubt mir zu jammern? Es geht mir doch eigentlich gut, überall gibt es Leute denen es viel schlechter geht als mir. Und trotzdem bin ich so erbärmlich. Ich sollte mich schämen.
Luna.
Meine Gedanken schweifen ab. Was solls, ich kann es mir erlauben, die paar Minuten ändern jetzt auch nichts mehr. In den letzten Minuten, meinen letzten Minuten, möchte ich mich an die glückliche Zeit mit dir erinnern, Luna. Du wirst es sicherlich wissen, aber du bist meine beste Freundin. Seit so langer Zeit kennen wir uns nun schon, wahrscheinlich bist du wohl auch diejenige, die mich am besten kennt. Nicht nur einmal hatte ich das Gefühl, dass du auch besser über mich Bescheid weißt als ich selbst.
Du hast geahnt das es mir schlecht ging, wusstest wo ich mich verstecke, wenn ich am Boden war. Du warst immer die Heilung, de Heilung für das Gift in meinen Adern.
Ob du dich wohl noch erinnerst? Wir lernten uns damals im Kindergarten kennen. Du warst ein Jahr älter als ich, und du hast mich beschützt. An meinem ersten Tag dort hast du mich an der Hand in den Raum gezogen, weil ich mich nicht traute. Du warst es, die mir alles zeigte, meine kleine Welt. Ja, Luna. Du warst meine Welt. Ich war glücklich solange ich bei dir war, denn bei dir war ich ich selbst. Wehmütig denke ich daran zurück, wie unbeschwert wir damals waren. Weißt du noch? Immer musstest du meine Hand nehmen und mich mit dir ziehen, weil ich mich nicht getraut habe.
Genauso war es auch als wir in die Schule kamen. Du warst schon drin, aber ich stand noch immer vor der Tür. Da hast du dich grinsend umgedreht, meine Hand gepackt und mir die Zunge raus gestreckt. "Du glaubst doch wohl nicht, dass du dich drücken kannst, oder? Ich brauch dich doch.", sagtest du damals. Ich habe deine Worte immer in Erinnerung behalten, denn sie haben mein Herz berührt.
Immer wenn ich unschlüssig war was ich tun soll, wenn ich stehen geblieben bin auf dem Weg meines Lebens, da standst du neben mir, hast mich angelächelt und nach meiner Hand genommen. In diesen Momenten fühlte ich mich frei, losgelöst von Verpflichtungen, Druck und Schmerz. Wenn du da warst, leuchtete die Welt in hellen Farben, du nahmst einen teil der last von meinen Schultern. Ich bin wirklich froh dich kennen gelernt zu haben, denn du bist das was man einen wahren Freund nennt. Ich bin stolz, dass ich die Erfahrung machen durfte, was es heißt so jemanden zu kennen. Denn es gibt nicht viele die das konnten.
Luna, wenn du das jetzt gehört hättest. Das klingt so unglaublich abgedroschen, aber so denke ich nunmal. Luna. Verzeih mir, jetzt waren deine Mühen wohl letzten Endes doch umsonst. Das tut mir Leid.
Was ist das für ein Geräusch? Ein knistern? "Luna?" Meine Stimme klingt rau. Das ist aber jetzt völlig egal. Wichtiger ist, was du hier machst. Stumm hockst du vor mir, liest den Abschiedbrief.
Nur einen kurzen Moment bemerke ich, wie die Klinge aus meiner Hand rutscht, denn du bist hier. Wieso, woher weißt du wo ich war? Du bist nicht überrascht. Warum nicht?
Eigentlich ist es ja auch nicht überraschend. Luna, du hast gewusst das es mir schlecht ging. Denn du warst ja die Person der ich mein Herz ausschüttete, wenn ich nicht mehr konnte, wenn ich unter der Last einzustürzen drohte. Du hattest mir versprechen müssen, es niemandem zu sagen. Ich hatte gebettelt, ich dachte ich schaffe es, aber ich lag falsch. Natürlich schienst du auch immer zu wissen wo ich war, wenn ich mal wieder floh. Wieso also nicht auch jetzt.
"Du glaubst doch wohl nicht, dass du dich drücken kannst, oder? Ich brauch dich doch." Du lächelst, es ist das lächeln von damals. DU legst meinen Brief beiseite, greifst stattdessen nach meiner Hand und ziehst mich auf die Beine. Wie du es immer getan hat. "Denk an eines. Wenn du fällst werde ich die sein die dich auffängt. Wenn du stürzt, werde ich die sein, die dir wieder aufhilft. Wenn du weinst, werde ich die sein, die deine Tränen trocknet. Wenn du dich einsam fühlst, bin ich der Schatten der dir überallhin folgt. Wenn du nicht mehr stark sein kannst, werde ich für dich stark sein. Denn du bist meine beste Freundin, und so sehr wie du mich brauchst, so sehr brauche ich dich."