Amerikas Kassandra und ihre schreckliche Vision

Der 11. September

Als das Mädchen am nächsten Morgen durch ein schrilles Piepen geweckt wurde, hatte sie einen Bärenhunger. Leise schlich sie sich, nachdem sie sich umgezogen hatte in die Küche. Dort stahl sie sich einen Laib Brot und rannte zum World Trade Center. Da ihr Heim nicht allzu weit von den Gebäuden entfernt war, war sie bereits nach 10 Minuten Fahrt mit dem Bus angekommen. Menschen gingen hinein und gingen wieder hinaus. So wie es aussah hatte der Präsident entweder nichts erreicht oder schlicht weg nichts unternommen. Sie sah in den Himmel, um nach den Flugzeugen Ausschau zu halten, die bald zwei Türme zum Einsturz bringen würden. Der wolkenlose, tiefblaue Himmel versprach einen wundervollen sonnigen Tag. Die Sonne lachte sanft auf New York City herunter und die Vögel zwitscherten in frohem Übermut. Es war ein Morgen, der eigentlich nicht besser beginnen konnte; ein Tag wie im Bilderbuch.
Das Mädchen saß auf einer Bank nahe des ersten Turms. Um 8:46 Uhr konnte sie das Flugzeug entdecken , das in das Gebäude raste. Beim Aufprall explodierte der Treibstoff, ein Feuerball schoss aus dem Gebäude. Wrackteile des Flugzeuges und Trümmer des Gebäudes stürzten zu Boden, erschlugen Passanten. Der Turm schwankte beängstigend. Durch das Gebäude schoss die Schockwelle, die nach jeder Explosion folgte. Menschen stürzen zu Boden, prallen gegen die Wände, oder verglühten in Sekundenschnelle in der gewaltigen Hitze des Feuers. Kerosin stürzte die Fahrstuhlschächte hinunter und ließ Fahrstühle verglühen, in denen sich Menschen befanden.
Auf den Straßen, wo vor wenigen Minuten noch das normale Treiben statt gefunden hatte, herrschte nun Stille. Sie sahen hinauf. An die Stelle, wo das Flugzeug hineingerast war.
Um 9:02 Uhr jagte das zweite, entführte Flugzeug in den Südturm. Eine Explosion, die Schockwelle danach erschlagen und verbrennen Menschen. Die Menschen fingen an u schreien, rannten dahin, wo sie ihre Beine hin trugen. Andere starrten noch immer hoch in den von Rauchwolken verdunkelten Himmel. Einige wenige zückten ihre mobilen Telefone und riefen die Polizei an. Die Polizei konnte sich bereits vor Anrufen nicht mehr retten. Die Chefs der Behörden wussten sofort Bescheid. Auch sie mussten einsehen, dass das Mädchen vollkommen Recht behalten hatte. Innerlich fluchten sie, doch als erstes mussten alle Einheiten zum Geschehen um den Platz zu evakuieren.
Eine Stunde und drei Minuten später stürzte der Zweitgetroffene dann ein. Nur 23 Minuten später brach der Nordturm ebenfalls zusammen. Beton, Stahl, Glas, Kabel, Einrichtungen und Menschenkörper bildeten die Trümmer, die sich zu einem gigantischen Berg auftürmten.
Währenddessen saß der Präsident in einem Klassenzimmer. Die Klassenlehrerin las ihren jungen Grundschülern eine Geschichte vor. George konnte sich jedoch nicht auf die Geschichte und die Kinder konzentrieren. Er wartete. Nervös rutschte er auf seinem Stuhl herum. „Sir“, flüsterte ihm ein Beamter ins Ohr. Schnell und leise erklärte dieser, dass die World Trade Center eingestürzt waren. Er seufzte und ließ den Kopf sinken. Es schien genau das eingetroffen zu sein, was das Mädchen ihm erzählt hatte. Er stand auf, entschuldigte sich und ging mit den Sicherheitsbeamten hinaus. Er stieg ins Auto und fuhr zurück ins weiße Haus. Er hatte gehofft, dass das Mädchen nur dieses eine Mal Unrecht behalten würde, denn er hatte nicht viele Menschen dazu bewegen können heute nicht zur Arbeit ins WTC zu gehen.
Doch darüber durfte er sich in diesem Augenblick nicht den Kopf zerbrechen. Er hatte seinem Volk bei zu stehen und dafür zu sorgen, dass nicht noch mehr Menschen durch ihre Panik sich ins Unglück stürzten. Also hielt er Interviews, Krisensitzungen, Beileidsbekundungen und und und. Als der Abend nahte ließ er sich nach Stunden harter Arbeit in einen Sessel sinken und schloss für einige Sekunden die Augen.
George raffte sich auch und schielt den Fernseher an. Er sah sich noch einmal die schrecklichen Bilder an, die in der ganzen Welt zu sehen waren und wollte gerade ausschalten, da erschien die Reporterin auf dem Bildschirm und meinte, dass sie Chuck Allen den Chef von EDV bei Lava Trading hier hatte, der es noch rechtzeitig geschafft hatte zusammen mit einer Kollegin aus dem Gebäude zu flüchten.
Er saß um 8:46 mit dem Rücken zum Fenster in seinem Büro, das im 83. Stock des Nordturms lag, als er ein dumpfes, saugendes, unerträglich lautes Geräusch hörte. Aus der Bürobox nebenan rief Liz Porter, seine Programmiererin: „Was zur Hölle ist das?“.
Allen kannte dieses Geräusch, denn erst vor einigen Jahren hatte er die Pilotenprüfung abgelegt. Er wusste, wie es klang, wenn der Pilot die Gashebel nach vorn schob, um der Turbine maximale Schubkraft zu geben. „Man kann ein Flugzeug allein mit Schubkraftveränderung steuern. Bei vollem Schub hebt sich die Nase des Jets.“ Es war genau dieses Geräusch, das Chuck Allen in seinem Rücken hörte.
Allen und Liz Porter traten sofort den Weg nach unten an. Auf dem Weg schlossen sich ihnen weitere Beschäftigte des Nordturms an. Nach einem langwierigen Abstieg erreichten sie die Plaza des Nordturms. Der Innenhof war voll großer Trümmer. Und sie sahen Menschen. Es waren vielleicht 20, 30, 40 Tote. Es waren Teile von Menschen.
Sie sahen einen Torso mit einem Gurt um die Hüften, einen zweiten, dritten, vierten... Alle hatten denselben breiten, schwarzen Gurt angelegt. Es dauerte einen Moment, bis Allen und seine Begleiter begriffen, dass es sich um die Passagiere des Flugzeugs handelte. Nur ein kleines Mädchen, das wohl auf einer Bank gesessen hatte, hatte keinen dieser Gurte um die Hüfte. Sie war erschlagen worden von einem der herunterfallenden Körper.
Mit weit aufgerissenen Augen saß der Präsident der Vereinigten Staaten da und er spürte es. Es bestand kein Zweifel für ihn. Das Mädchen, das Chuck Allen da gesehen hatte war.... Amerikas Kassandra!
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