Mitternachtstanz
einer beiläufigen Bewegung meiner Hand einige silberne Strähnen aus meinem Gesicht.
„Sind denn alle Menschen so launisch in ihren Handlungen?“
Ich verlagerte mein Gewicht auf mein rechtes Bein, als ich wiedeholt zum Sprung ansetzte. Ich spürte den kalten Luftzug und den nassen Regen auf meiner Haut, ja, sogar die elektrostatischen Impulse in der Luft, als sich für einen kurzen Moment ein neuer Lichtbogen am schwarzen Firmament erstreckte, ehe meine Füße den Boden berührten.
„Shia… na…?“
Langsam und bedacht, dennoch erschrocken drehte ich mich um und ein unterdrücktes, instinktives Knurren stahl sich aus meiner Kehle. Ich rührte mich nicht von der Stelle, während ich spüren konnte, wie, aus Unglauben geweiteten Augen auf mir ruhten.
Wie konnte ich nur so unvorsichtig sein?
„Hast du denn in deinem gedankenlosen Leichtsinn nun völlig deinen Verstand verloren? Einfach so von der Mauer zu springen.“
Urplötzlich berührten warme Finger meine Haut, schlossen sich um meinen rechten Arm und ich unterbot mir das Aufscheuchen eines überrumpelten Keuchens und ließ es ersticken. Zum ersten Mal in meinem gesamten Dasein glaubte ich zu erstarren. Ich wandte meinen Kopf und mein Blick folgte der Länge des Armes, wanderte hinauf von Schulter und Hals, bis ich in das junge Gesicht des Menschenjunges blickte.
„Wer bist du?“, fragte ich mit monotoner Stimme dieser bizarren Lage trotzend, denn diese Situation schien mir nicht geziem… und gar jemanden seiner Art meine Nähe zu gewähren, allein das war mir fremd.
Doch die dunklen Augen des Jungen füllten sich mit Verwunderung, als er ganz um mich herum trat und sein Gesicht von peinlicher Erkenntnis zeugte. Das Gefühl von Wärme auf meiner Haut schwand, nachdem er seine Hand zurück gezogen hatte.
„Oh verzeiht. Welch ein Missverständnis...“, antwortete er entschuldigend, und sein Blick huschte über meinen nassen und in den schwarzen Stoff eines Nachtkleides gekleideten Körper.
„Ich hielt Euch für jemand anderes.“
Perplex schnappte ich nach Luft. Er hatte mich verwechselt? Wer war nur dieser Junge? Gerade eben noch, im Schutze seines trauten Heimes, hatte lediglich mein Aussehen ihn verschreckt, gar erstarrt, während meine unmittelbare Präsenz ihn in keinster Weise zu beunruhigen scheint. Ich konnte nicht das geringste Anzeichen von Furcht, weder noch den Gedanken an eine Flucht in ihm erkennen. Stattdessen las ich Besorgnis in seinen Augen.
Natürlich, ich hatte ihn aufgehalten…
Von Neugier getrieben trat ich einen Schritt auf den mir gegenüberstehenden Jungen zu, als ein mir bisher fremdes Gefühl in meinen tiefsten Inneren zu brodeln begann und eine vertraute Lust in mir weckte. Ich wollte spielen, mich mit Vorsicht auf neuem Gefilde bewegen und mich dieser warmen Verrücktheit, die dieser Junge in mir auslöste, hingeben… denn danach würden wir uns nie wiedersehen.
Ich war mit der Dunkelheit, welche es ihm verwehrte mich zu erkennen, verschmolzen, bewegte mich auf ihn zu.
„Sei doch so gesittet und verrate mir, wer du bist… Tsukune.“
Vor Argwohn war der junge Tsukune vor mir zu zusammengezuckt, erst nachdem seine Augen ihn verspätet realisieren ließen. Unversehens stand ich direkt vor ihm, meine linke Hand ruhte in seinem weichen, schwarzen Haar, während meine andere ihn durch eine flüchtige Berührung zum Stillstehen dirigierte.
„Wo-…?“
Ein Zeichen von Amüsant, ein verspieltes Lächeln bildete sich auf meinen Lippen, als ich beobachtete, wie er, ausgelöst durch eine einzige Berührung, in seinen Bewegungen erstarrte und seine dunklen Augen unruhig umherwanderten, mich in der Dunkelheit besser zu erkennen versuchten.
„Schhht, ganz ruhig.“, sagte ich mit beruhigender Stimme und lauschte dem süßen Geräusch seines schnellen, hastigen Atmens.
Ich genoss die angenehme wärme seines Körpers unter meinen Fingern, näherte mich mit meinen Kopf seinem Gesicht und meine Lippen streiften leicht sein rechtes Ohr, wanderten weiter, berührten sanft seinen freien Hals. Genießend atmete ich den unschuldigen, jugendlichen Duft seiner Haut ein und konnte spüren, wie der gesunde Puls unter ihr stetig stieg.
„Du bist mutig, junger Mann…“, bemerkte ich schalkhaft, als er versuchte sich loszureißen, doch war er meiner starken Hand in seinem Nacken nicht gewachsen.
„…und merkwürdig.“
Abermals erhellte sich der dunkle Himmel über uns, raubte zugleich dem jungen Tsukune seinen Atem und seine Augen füllten sich mit purem Entsetzen. Er hatte mich erkannt!
„Du-!“
Meine rechte, freie Hand legte sich auf seinen Mund, verweilte dort für einen kurzen Augenblick. Als ich meine Hand in seinem Nacken lockerte und mich der warmen Quelle entzog, ergriff er von Neuem meinen Arm. Ein mahnendes Knurren fand seinen Weg aus meiner Kehle, erbost über seine Dreistigkeit, den Versuch mich meiner Freiheit zu berauben.
„Du spielst mit deinem Leben, Junge!“, knurrte ich jähzornig.
Doch der junge Knabe sah mich mit Entschlossenheit an, blickte mir in die Augen und ein weiteres Mal verwunderte er mich mit seinen Mut und überraschend nahm ich Kenntnis von einer kleinen, metallenen Kette in meiner Handinnenfläche.
„Teufelsweib! Möge der Herr dir gnädig gestimmt sein…“
‚Der Herr…?‘
Für einen kurzen Moment betrachtete ich den kreuzsymbolischen, silbernen Anhänger in meiner Hand und sah dann wieder zu dem Jungen hinüber, welcher mich mit verängstigen Augen anfunkelte.
„Dank dir.“, lachte ich kopfschüttelnd, ehe ich mich mühelos vom Boden abgestoßen hatte und mit einen Sprung über die hohe Mauer aus dem Dorf verschwand…
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Überrascht fuhr ich um mich, als ich plötzlich eine vertraute Gegenwart in meiner Nähe spürte. Mein Blick wanderte hoch zu den gewaltigen Wasserkaskaden, die eindrucksvoll in das tiefe Tal aus Gestein, in diesen ruhelosen, großen See, verborgen in mitten von den vielen Bäumen dieses Waldes, stürzten. Ich kämpfte mich mühelos durch das wilde Gebüsch aus verwachsenen Rangen und Ästen, konnte eine traute Gestalt in der unmittelbaren Nähe des Ortes ausmachen, an dem der gigantische Wasserfall in den unteren See mündete.
Ich lief die letzten paar Meter, bis ich hinter dem Rücken der Person zum Stehen kam.
„Vater.“
„Tochter, hast du gefunden, wonach du suchtest?“, fragte seine raue Stimme, doch drehte er sich nicht zu mir um.
„Noch nicht.“, antworte ich, trat dabei langsam um ihn herum.
Er trug einen schwarzen Mantel, nichts ungewöhnliches an sich, doch vor seinen Füßen entdeckte ich einen fremden, im nassen Gras liegenden, Körper. Auf den ersten Blick war das nichts Neues für mich, so stupste ich mit meinen Fuß gegen den erschlafften Körper, um zu sehen wer dieses Mal in sein Verderben und in die Hände meines Vaters gerannt war.
‚Aber das ist doch…!‘
„Stimmt irgendwas nicht, Tochter?“
Seine blutroten Augen sahen mich fragend an, während ich meinen Griff um den kleinen, silbernen und kreuzsymbolischen Anhänger in meiner Hand für einen kurzen Augenblick verstärkte.
'Anscheinend hättest du ihn mehr gebraucht, als dein Bruder es tat.'