Scheinwahrheit

immer die beste Beute bei den nächtlichen Streifzügen abgestaubt – für ihn blieb eine magere Beilage – der Trostpreis. Wer konnte besser verstehen, wie er sich fühlen mochte als der Erzrivale selbst?
„Ich verstehe dich. Du musst dich dieser Last auf deinen Schultern und in deiner Seele erleichtern.“ Ich hob die Hände in guter Manier. „Ich werde dir dabei helfen, wenn du gestattest?“
Er sagte nichts. Das Messer kam mit einem klirrenden Geräusch auf dem Boden auf.
Hier war das Licht schummrig. Eine vor Dreck strotzende Mülltonne stärkte mir den Rücken. Wenige Zentimeter trennten uns voneinander. Vorsichtig legte ich meine in seine Hände.
„Tu’, was du tun musst – ich halte still.“, versicherte ich ihm.
Nach wenigem Zögern tat er es auch. Ohne Rücksicht auf Verluste. Er brandmarkte mich. Er ließ seinen Frust an mir aus, trieb mich zur Verzweiflung, die er empfand, er machte sein Leid zu meinem und hielt nichts von Samthandschuhen oder Feinfühligkeit.
Blutend, ausgelaugt und geschunden ließ er mich zurück – der Abschaum, der vor seinem Thron lag – das war ich in meinen letzten Momenten auf der Erde vor dem Abfallcontainer.

Zum ersten Mal begriff ich die Aussichtslosigkeit meines Lebens. Ich wusste plötzlich, dass es an Sinn verlor, sobald ich geboren wurde. Keiner konnte meine Mutter retten. Keiner konnte meinen Vater heilen. Keiner konnte mich läutern. Aber wer hatte mir den Glauben an einen Lichtblick eingeflösst?

War es der Tod, der sein schlechtes Gewissen bereinigen wollte, weil er von Anfang an wusste, dass er mich für immer in die kalten Klauen würde betten können? Der Tod, der mir meine geliebte Mutter mit dem perlenden Lachen und der wie Windspiele sanften Stimme zurückbringen würde? Der Tod, der mich von meinem Leid erlösen würde?

Ich glaube nicht an das Schicksal. Das Schicksal glaubt an mich. Es will, dass ich an ihm festhalte. Es will beachtet und geliebt werden. Das Schicksal ist mein Vater und an ihn kann ich seit dem Tod meiner Mutter nicht mehr glauben. Nie mehr.

Ich glaube an den Schmerz. Schmerz bedeutet Leben. Leben bedeutet Vergehen. Vergehen bedeutet Tod. Der Tod ist mein stiller Begleiter – von Anfang bis Ende. Ich bin frei. Ich bin erlöst.

Das Kind der Liebe lebt im Paradies der Lüfte weiter. Der Himmel ist mein Reich. Die Wolken mein Bett. Luft und Licht, Regen und Gewitter meine Nahrung. Ich lebe für die Liebe – und ich starb für sie. Lebe wohl, Vater. Bis in einem nächsten Leben. Hoffentlich mit Beständigkeit.

Ich bin Missionvale.

ENDE

© Kunoichi_Hamina

A/N: Inspiriert durch einen Text im Englischunterricht, der mich persönlich sehr bewegt und aufgewühlt, sprachlos und wütend gemacht hat. Ich hasse das Recht der Starken, die sich herausnehmen, die Schwachen noch schwächer zu machen, weil sie mit ihrer eigenen Schwäche nicht fertig werden können.
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