Der Augenblick ist Zeitlos
Advent, Advent...
Türchen I. – Verspätung
„Hast du auch den Zimt dabei?“
„Zimt und Vanilleschoten – sogar Lametta“, erwiderte das kleine Mädchen stolz und grinste vom einen Ohr zum anderen.
„So bring den Korb geschwind herbei“, hörte die Kleine es aus dem Salon frohlocken.
„Bitte sehr“, damit reichte das Kleine Mädchen den voll gepackten Korb der älteren Frau, die mit ihren rosigen Wangen, dem glänzenden Gold ihrer Haare und dem verschmitzten Grinsen auf den Wangen jung geblieben war.
„Vielen Dank, Liebes“, lächelte die Frau immer noch und holte einen weiteren Korb von dem dick gepolsterten Schinnssessel hervor. „Das ist für dich, meine Kleine. Glaubst du, du schaffst es noch?“
Zuversichtlich lächelte das kleine Mädchen mit der viel zu großen Mütze auf dem Kopf. „Natürlich, Mama, gib nur her“, damit hängte sie sich den Korb über den Arm. Das Mädchen strich sich einmal über die Kleider, um die Kälte und Nässe des Schnees zu vertreiben, der vor der Tür sein Unwesen trieb. Ihr Mantel – weiß und flauschig – hatte am meisten abbekommen. Mit seinen wie Blumen geformten, roten Knöpfen, der gelben Schnalle am Bauch und dem roten, samtenen Gürtel um die Taille sah er aus, wie für einen Weihnachtselfen geschneidert. Der weiße und flauschige Bommel ihrer Mütze reichte ihr fast bis zum Rückrad, so groß war sie ihr. Wenn da nicht die unschlagbaren Nähkünste der Älteren wären, welche die Mütze enger geschneidert hätten, wäre ihr Gesicht in den Tiefen der flauschig roten Wolle versunken.
„Pass auf dich auf“, rief ihr die Mutter noch zu. Dann war ihr Rufen im tosenden Wind und dem Flöckchentanz versunken.
Das kleine Mädchen lächelte, als sie mit dem abgedeckten Korb durch die Straßen schritt. Sie liebte die Weihnachtszeit. Sie liebte das bunte Treiben, das Malen von Eis an die dicken Fenster, das Hetzen und Eilen von Kaufhaus zu Kaufhaus und sie liebte den großen, grünen Tannenbaum, der auf der Mitte des Platzes thronte. Sein Anblick brachte sie immer zum Staunen – genau wie jetzt.
Mit seinen immergrünen Zweigen – so lang, wie ihre Beine – hatte er einen majestätischen Anblick. Die Schneeflocken, die sich dazwischen tummelten, schwächten diesen Eindruck keinesfalls. Sogar die mit einem funkelnd goldenen Stern aufragende Tannenspitze war mit weißem Schneepulver bezogen und strahlte dennoch Erhabenheit in malerischer Vollendung aus.
„Wie Zuckerguss“, kicherte die Kleine und lief direkt auf den Baum zu. Ohne Angst, ohne Scheu – sie würde unter seinen wuchtigen Zweigen ihr Ziel finden. „Yahiko?“
Zur Antwort maunzte es unter dem grünen Berg von Tannenspitzen, Schnee und jeder Menge Weihnachtskugeln, die von winzigen Eiskristallen überzogen waren. Die Kugeln waren so hell, dass sich das ovale Gesicht der kleinen auf der Oberfläche brach. Mit ihren rosigen Wangen, der kleinen Stupsnase und den ungewöhnlich großen Augen und den Haaren von noch ungewöhnlicherer Farbe. Wenn man ihr in die Augen schaute, schien man sich auf der Stelle in der Zeit zu verlieren. Jeder Farbklecks war zu schnell entglitten, um ihn richtig festhalten zu können. Ihre Freunde nannten das immer „die Gabe des Regenbogens“, doch sie wusste es mit ihren sieben Mondläufen besser. Sie kannte den wahren Grund für ihre Regenbogenhaut, kannte die Opfer, die ihr nachtblaues Haar mit sich brachte.
„Yahiko“, wisperte sie, als sich das winzige Kätzchen endlich zu ihr hervorgewagt hatte. Scheu und mürrisch tapste es direkt auf sie zu, maunzte verstimmt, als wollte es sie verfluchen.
„Tut mir leid, Kleiner“, damit tätschelte sie ihm den weichen Kopf und wickelte ihn in das mitgebrachte Tuch ein, das sie vom Korb nahm.
„Miau“, antwortete es kurz angebunden, wie um ihr zu signalisieren: „Schon gut.“
„Sei nicht böse – ich habe dir auch was Schönes mitgebracht“, strahlte die Kleine und reichte ihm ein auffälliges Wollknäuel. Es war gelb. Zitrusgelb. Sternengelb. Golden wie die Sonne, unter der ihr Vater um die Hand ihrer Mutter angehalten hatte. Damals... Löwenzahn zu tausend und abertausend ihre Zeugen. Dutzende von ziependen Grillen ihr Orchester. Ihre Hochzeitsgäste. Mehr wollten sie nicht. Mehr brauchten sie nicht. Doch... Eines hatten sie noch gebraucht. Es schlängelte sich wie ein roter Faden durch ihr gesamtes Leben, wob ein unzertrennliches Band um ihre Hände – so gleißend hell, dass es jeden Außenstehenden blenden musste – und versprach, sie immer zu beschützen – in guten wie in schlechten Zeiten.
„Miau…“, damit meldete sich Yahiko zu Wort und stupste mit seinem Näschen gegen ihre Hand.
Sie erwiderte den Blick aus gelber See und lächelte dem Kätzchen flüchtig zu. „Ich bin der Grund“, seufzte sie bekümmert.
Ratlos sah Yahiko sie an, als wüsste er nicht so ganz, was er mit ihr anfangen sollte.
„Kibou“, wisperte sie leiser als die herab gleitenden Schneeflocken, die um sie her auf den weißen Boden fielen. Lautlos wie die Träne auf ihrer Wange, die auf halbem Weg erstarb und an ihrer Schläfe zu Eis gefror. „Kibou bedeutet Hoffnung, Yahiko“, erklärte sie schniefend, aber nicht minder geduldig, „ich sollte für Mama die Hoffnung sein, wenn Papa eines Tages gehen würde und Mama WUSSTE es. Sie wusste, dass er eines Tages gehen würde.“ Kibou horchte tief in sich hinein. War sie ihrer Mutter deshalb böse? Vielleicht, aber wenn sie ehrlich war, konnte sie nicht. Etwas hinderte sie daran. Oder war es jemand? „Papa…“, jammerte sie verzweifelt und schaute gen Himmel.
Eine einsame Sternschnuppe flammte auf – so auffällig, als wollte sie sagen: ‚Ja, sprich, ich höre dich.’
Die Aussicht, dass ihr Vater die Sternmännchen in Bewegung gesetzt hatte, um ihr auf diese Weise seine Aufmerksamkeit zu zeigen, brachte sie zum Schmunzeln. Sie presste ihren ausgerissenen Kater noch fester an sich.
Yahiko beschwerte sich lautstark gegen ‚diese Behandlung’, aber ihr Griff wurde nicht lockerer.
„Ich bin wieder da“, sagte sie, als sie zurück in dem warmen, gemütlichen Haus war.
„Oh Kibou, du kommst gerade rechtzeitig“ – „Rechtzeitig… wo…für…?“
Ihre Mutter schloss sie fest in ihre Arme, versuchte ihr durch die warmen Arme und die Geborgenheit den Unmut und die Bekümmerung zu nehmen. „Für das ‚Beisammensein’ – komm schnell ins Haus“, lächelte die Mutter und nahm ihrer Tochter Stiefel und Mantel ab.
Kibou konnte einen Hauch Zimt riechen. Etwas kitzelte sie am linken Ohr. Langsam zog sie eine Papierblume hervor und lächelte darüber. Ihre Mutter hatte den Zaubertrick mit der ‚magischen Blume’ immer noch d’rauf. Während Kibou die Tür mit einem leisen Lächeln hinter sich schloss, war ihr, als hörte sie es im Schnee leise wispern. Es war ihr, als stünde sie einen Momentlang mit ihren Eltern unter dem Baum, in dem seither das eingeritzte Herz mit dem ‚P + K = LOVE’ von ihrem schönsten Tag erzählen konnte.