Sieben Sünden
offensichtlichen Dingen täuschen, du Nichtsnutz. Schöpfe dein Wissen nicht aus dem, was du kennst, du spüren kannst, sondern lerne mit bedeutend wichtigeren zu verstehen… Kannst du es denn noch immer nicht spüren?“
„Was soll ich spüren? Und was verstehen?“, fragte ich ratlos.
„Zu sehen...Fange endlich damit an.“
Ihre Worte verwirrten mich. Ich sollte sehen? Wie? Ich kann es nicht…
Ich war überfordert und meine Verbindung, durch meine fortgerissene Hand, meine einzige Art zu sehen, zu dem kräftigen Stamm unterbrechend, wandte ich mich ab. Das war einfach zu viel und ferner nahm ich ein abwertendes Schnauben wahr, Schritte welche sich ebenfalls von mir entfernten…
„So wird dein Wunsch unerhört bleiben…“, die Stimme der fremden Frau erreichte mich nur noch kaum.
Mein Wunsch?
Er war unbedeutend. Mein Streben nach Glück in einer, von ständiger Dunkelheit umhüllter, Welt konnte noch so groß sein. Meine Wünsche wurden stets unerfüllte träume bleiben. Denn wer konnte sie schon erfüllen? Wer sollte mir dabei helfen, diese düstere Welt mit all meinen unbeantworteten Fragen zu verstehen?
Wieso und wie lange würde ich mich, zusammen mit meiner Mutter, noch verstecken müssen.
Warum war meine Mutter in ständiger Sorge um mich?
Weshalb hatte sie, der anderen Menschen wegen, Angst um mich?
Mein Wunsch war nicht von Bedeutung, vage, wie jene verschwommen Irrlichter, welche in der ewigen Dunkelheit, letztlich immer nur für kurze Dauer vor meinen Augen aufloderten.
Ich seufzte betrübt und drehte mich in einer unwillkürlichen Bewegung um mich selbst. Ich war alleine hier, gebunden an meine letzten Erinnerungen, um mich an diesem Ort zu orientieren. Die alte Frau war verschwunden… und das war seltsam. Es fühlte sich so an, als wäre sie nie präsent gewesen.
Mich nach der Kühe, wohlmöglich eines großen Schattens, richtend, machte ich einige Schritte. Zum zweiten Male streckte ich meinen rechten Arm aus und blieb, als ich erneut gegen die Rinde eines Baumes stieß, stehen.
„Fange endlich zu sehen an…“, flüsterte ich leise die Worte zu mir selbst, welche plötzlich ohne Anhalt in meinen Gedanken umherirrten und schloss bewusst die Lider meine Augen.
Ich begann mit meiner Hand vorsichtig über die unebene Flache zu streichen, bis die Spitzen meiner Finger mit einer klebrigen Masse in Berührung kamen. Und ich begann sofort zu verstehen - eine zugefügte Wunde, aus der Verletzbarkeit und Trauer sprach. Meine Finger wanderten weiter - unebene Linienflüsse des Lebens, welche einen Kämpferwillen preisen. Ich hörte das munteres Knistern und Rascheln - ein genießerischer Zustand, wenn der Wind die tauben Äste zum Knistern bringt und das raschelnde Lachen vielköpfigen Kinder, dem diese Seele gerne und stolz lauscht.
Zögernd öffnete ich wieder meine Augen, starrte in die mir, seit ich denken kann, so vertraute Dunkelheit.
Nein! Nichts!
„Warum nicht!“, schrie ich aus Leibeskräften, rutschte kraftlos zu Boden und schlug mit meinen, zu Fausten geballten, Händen frustriert gegen den starken Stamm.
„Ich kann dich spüren, dich hören und auch verstehen!“
Was muss ich noch tun, damit ich dich auch sehen kann?
Ich atmete klagend aus, während mein blinder Blick sich gen Himmel richtet.
War es ein so sehr Verwerfung verdienter Gedanke, sich zu wünschen, einmal nur das Licht zu sehen? Oder gar einen Freund an seine Seite? Einfach nur aus der einsamen Dunkelheit entfliehen zu können? Wie würde es sich wohl anfühlen, wenn man plötzlich dann daneben steht und sehen kann, wie langerwünschte Träume auf einmal in Erfüllung gehen und das Leben sich verändert?
Ich schüttelte traurig meinen Kopf, denn es war ein bittersüßer Gedanke. Es war nicht mehr, als ein gedankliches Befinden im, keine Hoffnung versprechenden, Rosengarten und erfüllungsloses Warten auf schicksalhafte Ereignisse.
Ich atmete entspannten aus und lehnte mich mit meinen Rücken gegen den starken rustikalen Baumstamm und ließ mich langsam fallen, lauschte der Stille des Waldes. Ich fühlte die harte Rinde, vernahm das sanfte Wehen des Windes, hörte das leise Rauschen der Blätter und spürte das weiche Moos.
Für einen Augenblick ließ ich mich von meinem, im Takt der Natur singenden, Herzschlag tragen.
‚März, mein Kind…
Du hast dir doch schon immer gewünscht das Licht zu sehen…‘
Warme Strahlen tanzten auf meinem Gesicht, rissen mich wieder aus meinen angenehmen Zustand der Entspannung. Das Gefühl des Lichtes begann zu schmerzen, die warmen Strahlen brannten auf meinen geschlossenen Lidern und die Dunkelheit wurde geschwächt.
Ich wich wimmernd zurück, suchte Schutz im tieferen Schatten des Baumes. Die Irrlichter vor meinen Augen tanzten fröhlicher als je zuvor, als ob sie nicht zulassen wollen würden, dass die Finsternis sich je wieder erholte. Ein klagendes Stöhnen verließ meinen Mund und ich kniff meine Augenlider fest zusammen, rieb sie zurückhaltend.
Langsam öffnete ich wieder meine Augen, die Dunkelheit war dabei immer mehr zu schwinden. Es geschah etwas…
Ein lautes Rascheln über meinen Kopf ließ mich aufschrecken und ein Blatt, gelöst von einen, durch die vielen Äste hüpfenden, Vogel, fiel in meine ausgestreckte Hand.
„Wie kann es sein…?“
Ich drehte mich schwungvoll um, der Blick meiner Augen wanderte in die Höhe. Verwirrende, unscharfe Konturen wirkten auf mich und vergessene, seit langem begrabende Erinnerungen begannen sich mit neugewonnenen Eindrücken zu vereinen.
‚Siehst du das Licht, März?‘
Ich schnappte überwältigt nach Luft, konnte das wilde Klopfen meines Herzen hören.
„Ich kann… sehen…“