Prolog
Vorsichtig zog sie die Kopfhörer aus ihren Ohren und steckte sie in die Tasche. Langsam ging sie weiter, versucht jedem der Blicke die auf ihr lagen aus dem Weg zu gehen. Ihr Kopf war gesenkt, niemand sollte ihr von Tränen überranntes Gesicht sehen. Niemand sollte hinter die
Fassade blicken. Mühsam hatte sie diese Mauer um sich selbst gebaut, wollte von niemandem mehr verletzt werden,
gefangen,
alleine in ihrer eigenen Einsamkeit.
Sie erreichte den Saal, mit ihren Gedanken weit entfernt, um das Geschwätz der anderen zu ignorieren
alleine in ihrer
eigenen Welt. Hier waren die Gedanken oft düster und schmerzvoll, doch längst nicht so sehr wie das was sie außerhalb ertragen musste. Die Dunkelhaarige wand den Kopf zur Scheibe, sie beobachtete die ersten herabfallenden Schneeflocken. Zärtlich wog sie der Wind, getragen von unsichtbaren, sanften Händen wurden sie in einem anmutigen Tanz zur Erde niedergelassen. Ein kurzes, schmerzloses, sanftes Leben. So etwas wünschte sie sich auch. Ihre Augen waren leer, keine Emotion, keine Regung war darin zu entdecken. Kalt. Ausdruckslos. Leer. Alles war zerstört. Sie war zerstört. Alles das sich hier befand, ihr Körper, ihr Verstand, ihre
Seele war gebrochen.
Es klingelte.
Alle fanden sich auf ihren Plätzen ein, sie saß alleine in der letzten Reihe. Von allen gemieden, selbst der Lehrer beachtete sie nicht mehr. Niemand beachtete sie. Sie gehörte hier her und doch nicht. Gefangen in einer unwirklichen Wirklichkeit, ein Albtraum der Realität war.
Das einsame Mädchen holte ihren Block aus der Tasche und begann zu zeichnen.
Augen sind der Spiegel der Seele - sie zeichnete Augen, hunderte Augen hatte sie schon gezeichnet –
war ihre Seele dann leer oder besaß sie schlicht und einfach keine mehr?. Während die Klasse sich mit Wahrscheinlichkeitsrechnung befasste, war sie eine Künstlerin.
Kann man einem Menschen das Einzigartigste was er besitzt nehmen?. Alles was sie zeichnete hatte Ausdruck.
Trauer, Freude, Schmerz, Liebe, Glück – Augen sind der Spiegel zur Seele, ihre Bilder sprühten vor Leben.
Als in einem Moment der Unachtsamkeit ihr Stift zu Boden fiel wurde es plötzlich Still. Alle drehten sich zu ihr um und da sah sie ihn. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Ihre Blicke trafen sich, wie gefesselt für einige Sekunden, dann wandelt sich sein Blick in Erschrockenheit. Ihrer blieb kühl und ausdruckslos. Gemurmel wurde laut, er drehte sich wieder um. Etwas in seinem Blick war seltsam gewesen, aber er würde sich sowieso nicht für sie interessieren. Falls er neu war, was stark anzunehmen war, dann würden ihn die anderen schon davon abhalten zu ihr zu kommen, er würde sogar mitmachen. Mitmachen dabei sie noch ein Stückchen mehr zu brechen.
Die junge Frau atmete sachte ein und aus, hob ihren Stift auf und zeichnete weiter. Doch irgendetwas hatte sich verändert, ihre Schutzwälle waren vorsichtig, registrierten jede Veränderung und ihr Unterbewusstsein veranlasste sie achtsamer zu sein. Keine unbedachten Momente mehr, sie wollte seinem Blick nicht noch einmal ausgesetzt sein.
So verbrachte sie die ersten beiden Stunden bis zur Pause. Äußerlich ruhig und unauffällig wie immer, innerlich wachsam und dabei entging ihr nicht, dass der Neue sich das ein oder andere Mal zu ihr herumdrehte. Doch mit dem Klingeln begann erst der wahre Albtraum.