120 Fragmente
Seelentränen
Wein des Himmels
Die Welt war grau. Alle Farbe war aus ihr verschwunden. Egal wie stark sich die Sonne hoch oben am Himmel auch bemühte, sie vermochte dieser trostlosen Welt nicht ihre Farbe zurück zu geben. Sie streckte sich herab, doch berührten ihre Strahlen den Boden nicht. Nur dumpfes, trauriges Licht schien aus der Ferne herab und erleuchtete die schmutzige Haut der Erde. Die Reste des vergangenen Tages langen in Trümmern auf den grauen Strassen. Kein Leben regte sich hier.
Einst war hier eine wunderschöne Stadt gewesen, mit vielen Menschen und glücklichen Kindern. Der Markt war bunt gewesen und die Menschen hatten gelacht. Doch nun war alles zerstört. Wie farblose Scherben lagen die Gebäude auf den Strassen verteilt. Selbst der Markt hatte seine ganze Pracht verloren und lag leblos zertrümmert da. Die Teppiche der Händler hatten all ihre Farbe verloren. Unter Trümmern und Staub begraben, sah man sie gar nicht mehr. Kein Vogel kreiste über dieser trostlosen Gegend, denn hier gab es nichts mehr und das wussten sie.
Er hatte die Hoffnung auf Rettung aufgegeben. Seine Augen starrten müde in den Himmel. Hilfesuchend wandten sie sich an die Sonne, die er jedoch nicht zu erreichen vermochte. Im Innern seines Körpers hatte sich eine Eiseskälte ausgebreitet. Seine Gliedmassen fühlte er schon lange nicht mehr. Seine Gedanken hatten aufgehört zu fliessen. Er starrte nur hoch zur Sonne und bat sie stumm ihn mitzunehmen. Denn in dieser Welt gab es nichts mehr für ihn. Alles und jeder war von dieser Erde verschwunden. Hier gab es nur noch ihn. Er war der letzte. So wollte auch er jetzt verschwinden. Doch die Sonne nahm ihn nicht in ihre warmen Arme. Sie blieb dort oben am Himmel und starrte kraftlos zurück.
Am gestrigen Tag hatte die Welt ihr Ende gefunden. Ohne Vorwarnung war es passiert. Sie hatten keine Chancen gehabt sich zu retten. Die Erde hatte plötzlich gebebt. Dann, mit donnerndem Getöse, war der Himmel auf sie hinabgestürzt. Alle waren unter den Trümmern begraben worden. Nur er war verschont geblieben. Alleine wanderte er stundenlang durch die graue Welt. Menschen hatte er keine gefunden, nur leere Hüllen, mit grauem Staub bedeckt und leeren Augen, die ihn anstarrten. Es gab nichts mehr. Jetzt lag er hier, auf seinem Rücken und starrte die Sonne an, die seinen Körper nicht zu wärmen vermochte. Ob sein Herz noch schlug, fühlte er nicht mehr. Doch langsam ging es mit ihm zu Ende, das fühlte er. Durst hatte er keinen mehr, Hunger hatte er keinen mehr. Er fühlte weder Schmerz noch Trauer. Er war einfach nur noch da, ohne irgendwas zu fühlen. Nur diese Kälte in seinem Körper war noch bei ihm.
Doch plötzlich wurde ihm auch noch die Sonne genommen. Etwas schob sich davor und warf seinen Schatten auf sein Gesicht. Das war sein Ende. Er konnte nicht einmal mehr die Sonne sehen. Es konnte nicht mehr lange dauern.
„Können Sie mich hören?“ Die Stimme schien wie aus einem Traum zu kommen. Er hörte sie, doch verstand er nicht, was sie sagte. Sie kam von dem dunklen Ding, das ihm die Sonne gestohlen hatte. „Sind sie noch bei Bewusstsein?“ Etwas Warmes legte sich an seine Wange. In seinem Innern rührte sich etwas. Nach Stunden des Nichtsfühlens, war diese Wärme wie Magma an seiner Hand. Sie verbrannte seine Haut und drang bis in sein Inneres. Sein Körper reagierte automatisch darauf und zuckte zusammen. Es schien als ob ein Stromstoss quer durch sein Körper geschickt werden würde. Seine Augen fixierten den dunklen Schatten und sahen ihn zum ersten Mal klar. Es war ein Gesicht. Das Gesicht einer Frau. Ihre Wangen waren rosig. Die blonden Locken strahlten wie ein Heiligenschein und ihre Augen funkelten wie Smaragde. „Keine Sorge, jetzt wird alles gut.“ Die Stimme war sanft und klang so hell wie Glockenschläge. „Wir werden Sie hier wegbringen.“
Endlich war es vorbei. Endlich konnte er weg von hier. Er konnte nicht mehr an sich halten. Sein Körper gab nach. Die Welt um ihn herum verschwamm, als ihm die Tränen in die Augen traten. Es war vorbei. Die heissen Tränen bahnten sich ungehalten den Weg über seine Wangen. Den Blick hielt er weiterhin auf die Frau über ihm gerichtet, die ihn liebevoll anlächelte und ihm über die Haare strich. „Alles ist gut.“
Sein Oberkörper wurde hochgehoben und an ihren gelegt. Der Geruch eines lebenden Menschen stieg ihm in die Nase. Er war doch nicht alleine. Es ging noch weiter. Es gab noch andere. Sie hatten ihn gefunden. Ihre Wärme umfing ihn gänzlich, als sie die Arme um ihn legte. Weiterhin starrte er in ihr Gesicht, ein lebendes Gesicht, mit funkelnden Augen und Blut, das unter der rosigen Haut floss. „Hier…“ Ihm wurde etwas an die Lippen gehalten. Im nächsten Moment spülte etwas Kaltes in seine Mundhöhle. Wie von selbst schluckte er. Das kalte Nass floss seine staubtrockene Kehle hinunter. Es breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Bis in den letzten Fingerspitzen floss es. Dann breitete sich eine Welle in ihm aus. Lebenskraft durchströmte ihn wieder. Er konnte das dumpfe pochen in seinem Kopf wieder fühlen, fühlte die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht, die Kälte in seinen Fingerspitzen und den Hunger und den Durst in seinem Inneren. Er konnte wieder sehen. Er sah die Überreste der Stadt um sich herum.
Noch etwas schwach griff er wieder nach der Flasche. Ihm wurde wieder Wasser in den Mund gekippte. Kühl schwappte es durch seinen ganzen Körper und schenkte ihm wieder Leben. Es war so wunderbar. Er konnte sich nicht erinnern jemals etwas so Köstliches getrunken zu haben. Es war so gut, dass er sogar daran zweifelte, ob es wirklich Wasser war. Es schenkte seinem fast toten Körper wieder Leben. Es zerrte ihn vom Tod weg, der zum greifen nah gewesen war. Wieder blickte er in das Gesicht der jungen Frau hoch. Die Sonne erhellte ihre blonden Haare, sodass sie aussah wie ein blonder Engel. Ein blonder Engel, der ihm den Wein des Himmels gebracht hatte.