Secret
und konnte heiße Tränen meine Wangen hinunterfließen spüren. Wie um alles in der Welt, konnte er das nicht merken? Es musste höllisch weh tun, auch wenn die Stellen vergleichsweise klein waren…
Auch Ned’s Hand fiel kraftlos in die schwarze Masse. Das Teufelszeug tat nichts, um die Hand einzuschließen, es war viel mehr, als würde sie im Dunkeln versinken, und nach einiger Zeit wieder ausgespuckt werden, wenn das Interesse daran verloren gegangen war. Wie ein Hund, dem es langsam langweilig wurde, sein Spielzeug weiter zu zerfleddern… Und tatsächlich; Die Masse machte einen Bogen um die Hand, als sie mit ihr fertig war. Oder eher das, was von einer Hand übrig geblieben war. Nämlich die nun freiliegenden Knochen, die einen ungesunden und gelben Farbton angenommen hatten. Ob es daran lag, dass eine fremdartige Säure sie angegriffen hatte? Ned rührte sich inwzischen schon seit einer Weile nicht mehr. Er hatte auch aufgehört zu husten. Vielleicht auch, um sein Leben zu kämpfen. Ich beobachtete Martens dabei, wie er dem Jungen immer wieder gegen die Wange schlug, als könnte ihn dies wiederbeleben.
Ich konnte fühlen, wie meine Beine vor Angst kurz davor standen einzuknicken, als ich meinen Blick von der Leiche weg zwang. Es war schwer. Und ein Fehler. Denn ich sah an ihnen vorbei zur Tafel, um nicht in die zu Tode verängstigten Gesichter sehen zu müssen. Jetzt stand dort ein Satz, der in Eile und mit roter Kreide dort hingekritzelt worden war: »Zwei können ein Geheimnis bewahren...« Kurz tauchte vor meinem inneren Auge ein lächelndes Mädchen auf. Ich kannte es nicht, aber es schien sich über meine Angst zu amüsieren. Dann verschwand es wieder, so schnell es erschienen war.
Das war der Moment, in dem ich nicht mehr aufhören konnte zu schreien. Ich kniff die Augen zusammen und hörte, wie ein schrilles Kreischen meine Kehle verließ. Es war plötzlich so still… Ich öffnete schluchzend die Augen und sah, dass sie mich beobachteten. Es lag Schock in ihren Gesichtern, aber Unverständnis. Sie musterten mich mit verwirrten Augen. Und da verstand ich. Sie sahen es nicht. Sie sahen nichts davon. Nicht die schwarze Masse, nicht die Knochenhand, nicht die Schrift an der Tafel… Wie zum Henker dachten sie denn dann, war Ned gestorben!?
Ich schüttelte den Kopf, als wollte ich ihnen etwas signalisieren, schluckte meine Tränen hinunter und nahm Reißaus. Rannte aus dem Klassenraum und ignorierte die Augen, die sich verständnislos in meinen Rücken bohrten.
“Was hat die?”, hörte ich eine Stimme murmeln, die mein verwirrter Verstand nicht zuordnen konnte, obwohl ich erkannte, dass er verstört klang.
“Um sie herum scheinen alle zu krepieren. Sie weiß das.”
Das war Blair gewesen. Sie konnte ich zuordnen. Obwohl sich Empörung zu der Trauer in meinem Herzen gesellte, rannte ich weiter. Blair hatte einen rothaarigen Lockenkopf, einen blassen Taint und grüne Augen, mit denen sie aber normalerweise nie jemanden direkt ansah. Sie benahm sich stehts wie ein Außenseiter und hätte trotz ihres Kleidungsstils auch eher zu den Emos gepasst. Sie war zurückhaltend, aber gehässig. Es wunderte mich nicht, dass sie so reagierte. Auch wenn ich nicht wusste, wen genau sie mit »Alle« gemeint hatte.
Ich stieß die Türen am Eingang auf und stolperte die Treppe hinunter, auf den Schulhof, wo ich mich allmählich sicher und unbeobachtet fühlte, und dort verschnaufte.
“Catrin!”, rief eine Stimme meinen Namen.
Ich wusste, ich kannte ihren Träger und fuhr herum. Ein großgewachsener Junge, mit dunkelbraunen Haaren und beinahe schwarzen Augen kam auf mich zu gelaufen. Er war gebräunt und seine Haare waren ein wenig länger, als die der Meisten. Trotzdem war er nicht hässlich. Und er war mir sehr wohl bekannt. Es handelte sich um Vincent. Er war nie mein Freund gewesen, aber trotzdem ein Freund.
Ich sah ihn mit vermutlich geröteten Augen an, und wartete darauf, dass er etwas sagte.
“Du… siehst fertig aus”, bemerkte er zögerlich, aber mit sorgenvoller Stimme.
“Wundert dich das?”, entgegnete ich, und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht.
“Gewissermaßen schon! Immerhin hatte er nur einen ziemlich schlimmen Asthma-Anfall. Es ist ja nicht so, als wäre Ned gerade vor unseren Augen gestorben”, er lachte leise. “Trotzdem hätte ich nicht erwartet, dass es dich so erschreckt. Aber vermutlich bist du einfach nur zu nett.”
Ich blinzelte verwirrt, und gab mir Mühe, mir nichts anmerken zu lassen. Was war hier los? Ned hatte kein Asthma. Er hatte auch nie Asthma gehabt. Auch wenn wir nicht mehr so gut befreundet waren, wie wir es früher als Kinder gewesen waren, konnte ich das guten Gewissens behaupten. Also lebte er noch? Das ergab absolut keinen Sinn. Fest stand aber, dass niemand gesehen hatte, was ich gesehen hatte. Und wenn ich nicht wie eine Geisteskranke wirken wollte, verhielt ich mich auch besser so, als hätte ich nichts Ungewöhnliches bemerkt. Allein schon, um niemanden zu verängstigen.
Ich lächelte Vincent entgegen und unterdrückte stattdessen das Keuchen, das mich dazu zwingen wollte ungläubig nach Luft zu schnappen. “Hey, höre ich da etwa Eifersucht heraus?”, fragte ich ihn spielerisch, um ihn abzulenken.
“Nein, keine Sorge”, lachte er nur. “Gehen wir wieder rein?”
Ich zögerte. “Ehrlich gesagt… wollte ich nach Hause. Das eben, hat mich an so Einiges erinnert… Ich glaube ich habe ihren Tod zu voreilig weggesteckt und das kam jetzt hoch, oderso”, log ich.
Der Braunhaarige nickte, als würde er verstehen. “Ja, so was ist nicht leicht. Soll ich dich nach Hause begleiten?”
Ich schüttelte den Kopf, ohne genauer darüber nachgedacht zu haben, und verfluchte mich innerlich für meine Dummheit. Ich hatte soeben meine Chance verpasst, Vincent unauffällig ein paar Infos zu entlocken, die mir hätten sagen können, warum sich alle so seltsam benahmen, wenn sie mich nur sahen. Aber es war zu spät meine Meinung noch zu ändern… “Nein. Es geht mir gut. Tu mir nur einen Gefallen, und erzähl Martens etwas Passendes, ja?”
Wir verabschiedeten uns mehr als zögerlich voneinander, und ich trat mit schnellen Schritten meinen Heimweg an. Ich fühlte mich mehr als unwohl, also hatte ich Vincent auch bloß zur Hälfte angelogen… Während ich meine Schritte von Sekunde zu Sekunde immer weiter beschleunigte, bis ich schließlich rannte, wurde es über mir dunkler, und ich realisierte, dass ich einem Wolkenverhangenen Himmel entgegenlief.
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Ich stürmte ins Haus, schmiss die Tür hinter mir zu und schloss sie sicherheitshalber zwei Mal ab, bevor ich die Treppe hinauf in mein Zimmer eilte. Dort angekommen, kauerte ich mich auf meinem Bett zusammen und presste ein Kissen vor meine Brust, in das ich mein Gesicht vergrub. Ich weinte nicht. Aber ich hatte starke Kopfschmerzen, ohne zu wissen, wo sie herrührten.
Eine sanfte Melodie tönte durch mein Zimmer. Erschrocken fuhr ich hoch und starrte auf das Regal neben meiner Tür. Dort stand seit Jahren eine alte Spieluhr, die ich aber nie selbst angerührt hatte. Ich hatte nicht gewusst, ob sie überhaupt noch spielte, aber ich hatte auch kein Interesse daran gezeigt, es auszuprobieren. Es war ein gewöhnliches Spielzeug, wie jedes Andere, mit einer kitschigen Ballerina im rosafarbenen Tütü auf der Spitze, die zur Melodie tanzte und und Pirouetten drehte. Ich sah mich verschreckt in meinem Zimmer um. Mir fuhr ein widerlicher Schauer über den Rücken und mir war, als würde ein kalter Luftschwall mir entgegenwehen. Wer hatte die Spieluhr aufgezogen, wenn ich sie nicht erreichen konnte, weil ich in mein Kissen gekeucht hatte?
Zögerlich schwang ich die Beine über die Bettkannte und schlich auf die Ballerina zu, nahm sie in die Hand, und drehte die Spieluhr neugierig, während sie allem Anschein nach nicht plante, ihr Lied zu beenden. Eigentlich hörte es sich schön an…
Hinter mir knarzte es. Ein erneuter Schauer durchfuhr mich, aber ich ließ mir nichts anmerken und drehte mich langsam um. Die Badezimmertür, die an mein Zimmer angrenzte war aufgegangen und nun klaffte mir mein dunkles Badezimmer entgegen. Ich schluckte. In Horrorfilmen war das immer die Stelle, an der jemand mit billigen Grusel-Effekten in die Falle gelockt wurde, um getötet zu werden. Sogar das Wetter draußen schien zu passen… Es stürmte nicht, aber die Wolken am Himmel färbten ihn dunkelgrau und tauchten auch mein Zimmer in eine drückende Stimmung.
Ich vertrieb diesen Gedanken und trat auf die Tür zu. Es war beinahe lustig. Immer wenn ich so einen Film sah, sagte ich mir selbst, dass ich niemals so dumm sein würde. Und jetzt war ich so dumm. Was sollte auch schon passieren? Es gab keine unsterblichen, massenmordenden Monster. Mir konnte nichts geschehen. Ich betätigte trotzdem den Lichtschalter an der Wand, um sicher zu gehen. Erleichtert stellte ich fest, dass ich einzig und allein mein Spiegelbild sah, dass mir entgegenstarrte, als erwarte es jemand Anderen. Ich hatte dunkle Ränder unter den Augen, aber ich verbuchte es als kleineres Übel. Meine Blonden Haare waren vom Wind erfasst worden, und krausten sich leicht am Ansatz, aber selbst das war besser, als überfallen und umgebracht zu werden…
Die Spieluhr spielte die letzten Takte ihres Liedes und gab ein leises Klicken von sich. Überrascht konnte ich im Spiegel sehen, wie das kleine Podest sich leicht angehoben hatte und wie eine Schublade auf und zugeschoben werden konnte. Ich richtete meinen Blick auf die behälfsmäßige Schublade und zog einen Zettel heraus, der mir geradezu entgegen blitzte. Mit einer Hand entfaltete ich ihn umständlich, um die Spieluhr nicht zur Seite legen zu müssen.
Es war kein Zettel. Es war ein Foto. Auf der einen Seite stand ich, legte die Arm um eine Andere Person und grinste in die