Secret
Kamera. Es war ein typisch kitschiges Foto, dass bei strahlendem Sonnenschein mitten in der Stadt aufgenommen worden war. Ich erinnerte mich sogar, dass meine Schwester es geschossen hatte. Meine Hand begann zu zittern, ich fühlte feine Schweißtropfen auf meiner Stirn und meinen Herzschlag der ungleichmäßig schneller schlug, als ich mich der anderen Person zu wandte. Es war ein Mädchen mit dunkelbraunen, elegant gelockten Haaren, und Augen von derselben Farbe. Sie hatte eine stark gebräunte Haut, trug kaum Schmuck, und war ebenso dezent geschminkt, wie gekleidet. Sie lächelte schüchtern aber freundlich in die Kamera und ließ zu, dass ich einen Arm um sie legte. Sie war es! Es war das Mädchen, das ich in der Schule gesehen hatte. Das Mädchen das sich über die Tränen gefreut hatte, die ich vergossen hatte. Jetzt erinnerte ich mich auch an einen Namen. Laila. Ich kannte sie. Sie war mir vertraut - sehr sogar. Sie war… -
“Cat.”
Wie von selbst, schoss mein Kopf nach oben und ich blickte in den Spiegel. Für einen Moment, hatte ich wirklich geglaubt diese vertraute Stimme hätte mich gerufen. Es war eigentlich unmöglich… Doch ich sollte etwas viel Schrecklicheres sehen. Mein Spiegel war verschmiert. Und diesmal war es Blut. Ich konnte es deutlich sehen. Ich quetschte das Foto in meiner Hand. Wenn sie in der Schule nur versucht hatte, mich zu warnen, so wollte sie mir jetzt eine Heidenangst einjagen… Die Kopfschmerzen schwanden, machten Erinnerungen Platz, nur um viel penetranter zu mir zurückzukehren…
»… wenn eine von ihnen tot ist.« stand dort in erbahrmungsloser, roter Schrift geschrieben. Ein einzelner, kleiner, roter Tropfen löste sich von dem Wort »tot« und zog beim Herunterfließen einen schwachen Rinnsal auf meinem Spiegel hinter sich her.
Ich wusste nicht mehr, wo ich das Foto hingetan hatte, aber plötzlich sah ich sie. Laila stand neben mir im Spiegel und grinste mich freudig an, als würde sie meinen verängstigten Gesichtsausdruck lustig finden. Dann erlosch ihr lachendes Gesicht. Sie sah mich kalt an und stürzte sich mit einer unglaublich schnellen Bewegung auf mich. All die Wärme war aus ihren schokobraunen Augen gewichen. Ich kreischte auf, spürte eine Träne meine Wange hinunterfließen und ließ die Spieluhr vor Schreck fallen. Ich hörte wie sie auf dem Boden aufkam, und dem Geräusch nach zu urteilen in ihre Einzelteile zersprang. Bei dem Gedanken daran spürte ich einen merkwürdigen Stich in meinem Herzen.
“Sieh nur, Catrin…”, hörte ich die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf.
Ich fühlte nur Kälte, als sie ihre Arme fest um meine Schultern schlang, als wollte sie mich zerquetschen… Panisch rammte ich Laila meinen Ellenbogen in die Magengrube, was mir Zeit verschaffte sie noch einmal mit meinem Rücken zu rammen, und die Braunhaarige nach hinten zu stoßen. Ich hörte einen dumpfen Aufprall auf meinem Teppichboden und fuhr kampfbereit herum. Wenn ich mich verteidigen musste, würde ich dies auch tun.
“Was ist nur los mit dir, Cat?! Du hast mich doch gesehen!”, beschwerte sich eine Stimme.
Aber als ich die Person erkannte, die da vor mir lag und sich den Bauch hielt, blickte ich in die ebenso blauen Augen meiner Schwester Mia, die mich erschrocken ansah. Einzig und allein ihre Stimme, war nicht die meiner Schwester. Sie schien sich mit Laila’s zu vermischen und meine Erinnerungen freizugeben… Ich stand einfach nur da und beobachtete sie wachsam. Langsam aber sicher kam alles zu mir zurück.
“Ich muss dir ein Geheimnis verraten”, sagte ich, während Laila und ich uns auf mein Bett fallen ließen.
“Was für ein Geheimnis?”
“Es geht um meine Eltern.”
“Was willst du mir sagen?”
“Schwörst du, du nimmst es mit ins Grab?!”
“Cat, du fängst an, mir Angst zu machen…”, erwiderte Laila unsicher.
“Cat, du fängst an, mir Angst zu machen”, zog Mia’s Stimme mich wieder aus meiner Gedankenwelt. Sie klang beunruhigt, verhalf sich aber auf die Beine, als wäre sie verärgert.
“Du hast versprochen, du würdest schweigen. Zwei können ein Geheimnis bewahren, wenn eine von beiden tot ist. Oder auch nicht…”, dachte ich bitter und folgte meiner Schwester, die die Treppe hinunter stampfte und auf dem Weg in die Küche war.
Sie warf ihre dunkelblonden Haare dabei energisch zurück. Womöglich war sie wirklich sauer. Mia schritt hinter die Anrichte, und fuhr dann zu mir herum. Sie bedachte mich mit einem gereizten Blick, presste die Lippen zusammen, und wandte sich dann wieder herum, um mit dem Besteck in der Spühlmaschiene zu hantieren.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie zu Reden begann: “Die Polizei will dir morgen erneut Fragen stellen. Sie halten es für sehr verdächtig, dass deine beste Freundin gestern gewaltsam umgekommen ist. Unglaublich, dass ich das auch noch laut aussprechen muss…” Letzteres hatte sie in sich hinein gemurmelt, als würde es sie nerven, aber ich hatte es trotzdem deutlich verstanden.
Meine Augen weiteten sich nur kurz vor Aufregung, bevor ich mich wieder zu einem Pokerface zwang. Mein Blick glitt zu dem Messerblock hinüber, der nur wenige Zentimeter neben mir auf der Anrichte stand.
“Ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht, was ich davon halten soll! Meine kleine Schwester ist vielleicht eine Mörderin…”, zeterte Mia weiter. Das Geschirr begann lauter zu klirren.
“Du hast es also trotzdem fast geschafft. Versuch’s nur”, dachte ich an Laila gewandt und zog eines der Messer geräuschlos aus dem Block. Die saubere Klinge glänzte im Licht der Küchenlampen.
Ich schritt dicht hinter Mia und rammte ihr das große Messer mit einer schnellen, kraftvollen Bewegung direkt in den Rücken. Sie keuchte trocken und zufriedenstellend, versuchte zu schreien, aber scheiterte. Ich hatte gut gezielt, und offenbar die Lungen getroffen. Ich konnte spüren, wie ihr Körper versuchte nach Luft zu schnappen, es aber einfach nicht gelingen wollte.
Ich zog das Messer schnell heraus, packte ihren dunkelblonden Haarschopf und zerrte sie daran herum, damit sie mir in die Augen sehen konnte. Sie sollte immerhin wissen, dass ich sie nie umbringen würde, wenn es nicht absolut notwendig wäre… Ich packte ihren Kopf mit beiden Händen, während ich ihren verängstigten, geschockten, Gesichtsausdruck am Rande wahrnahm. Sie sollte sich nicht so anstellen. Sie war im Grunde genauso Schuld, wie meine Eltern. Grob und mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft, schlug ich ihren warmen Kopf gegen die Kante der Anrichte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Ich spürte wie mir ein paar warme Sprenkel ins Gesicht spritzten.
Als sie mir mit leblosen Puppenaugen entgegenstarrte, schubste ich Mia’s starren Körper zu Boden. Ich würde mich später um dieses Chaos kümmern.
Es war eine gute Entscheidung gewesen, diese kleine Erinnerung in meinem Lieblingsspielzeug von damals zu verstecken…
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Mondlicht tauchte den Friedhof in ein gespenstisches Licht. Es fiel gerade so auf uns herab, als würde es Laila’s Grabstein in einen besonderen Schein tauchen wollen. Es war nur ein Grabstein, mit ihrem Namen darauf eingraviert. Noch war kein Loch ausgehoben und kein toter Körper unter der Erde. Sie würden ihre Leiche vermutlich auch nicht finden…
Ich hatte meine langen, blonden Haare unter eine dunkle Kapuzenjacke gezwungen.
Ich bückte mich hinunter gab dem kalten Stein einen sanften Kuss, wie man ihn anderen Menschen auf die Stirn gibt. “Versuch es ruhig weiter, beste Freundin. Egal welchen Stein du mir in den Weg wirfst, ich werde ihn beseitigen. Egal wer es ist. Du hast versprochen, du schweigst. Jetzt tust du es selbst im Tod nicht… Was für eine schreckliche Freundin.”
Ich ließ meinen Kopf gegen den kühlen Stein sinken und ihn für einen Moment dort ruhen. Ja. Sie war eine schlechte Freundin. Sie hatte mein Geheimnis einfach verraten wollen. Aber sie war auch meine einzigste, und liebste Freundin gewesen.
Ich hörte meine eigene Stimme, wie sie das Lied meiner Spieluhr anstimmte, dass nie wieder für mich erklingen würde:
“Look into my eyes
Now you're getting sleepy
Are you hypnotized
By secrets that you're keeping?
I know what you're keeping
I know what you're keeping
Got a secret
Can you keep it?
Swear this one you'll save
Better lock it, in your pocket
Taking this one to the grave
If I show you then I know you
Won't tell what I said
Cause two can keep a secret
If one of them is dead…”